Friesische Sprache und Literatur

[152] Friesische Sprache und Literatur. Die Sprache der alten Friesen ist ein Zweig des Westgermanischen (s. Germanische Sprachen), und zwar steht sie in nähern Beziehungen zum Angelsächsischen; eine sehr charakteristische Eigentümlichkeit des Friesischen ist es jedoch, daß k und g vor i und e in einen z-Laut übergehen, z. B. tserke aus kerke (Kirche), lidszia = altsächsisch liggian (liegen). Das Friesische ist die einzige germanische Sprache, die diesen in den romanischen und besonders in den slawischen Sprachen sehr gewöhnlichen Lautvorgang kennt. Die Quellen des Friesischen reichen bis auf einige Bruchstücke einer Interlinearversion der Psalmen aus dem 11. oder 12. Jahrh. nicht über die erste Hälfte des 13. Jahrh. hinaus. Man begnügt sich daher, die Geschichte der friesischen Sprache in zwei Perioden zu zerlegen: das Altfriesische, vom Auftreten der Quellen bis zum 16. Jahrh., und das Neufriesische. Die altfriesische Sprache ist uns in zwei Hauptmundarten überliefert: der westfriesischen (westlich der Lauwersee in den Niederlanden) und der ostfriesischen (zwischen Lauwersee und Wesermündung); von einem dritten Zweige des Friesischen, dem Nordfriesischen, sind keine ältern Sprachdenkmäler überliefert. Eine Grammatik der altfriesischen Sprache lieferte zuerst RastFrisisk Sproglære«, Kopenh. 1825; deutsch von Buß, Freiburg 1834). In seinem Zusammenhang mit den übrigen germanischen Sprachen wurde das Altfriesische behandelt von Grimm in seiner »Deutschen Grammatik«. Besonders wichtig und ausführlich ist die »Altostfriesische Grammatik« von W. L. van Helten (Leeuw. 1890); vgl. ferner die Abhandlung von Th. Siebs in den »Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur«, Bd. 11 und 12, und[152] W. Heuser, Altfriesisches Lesebuch mit Grammatik und Glossar (Heidelb. 1903). Als altfriesisches Wörterbuch kommt jetzt allein das vorzügliche Werk von Richthofen (Götting. 1840) in Betracht. Das Altfriesische kennen wir fast nur aus prosaischen Quellen und zwar ausschließlich aus Rechtsdenkmälern, von denen die Mehrheit einzeln oder in Sammlungen herausgegeben ist von M. de Haan Hettema. Eine Gesamtausgabe verdanken wir K. v. Richthofen (Berl. 1840).

Heutzutage hat die friesische Sprache viel von ihrem ältern Verbreitungsgebiet verloren. Analog den ältern Verhältnissen sind die neufriesischen Mundarten in drei Gruppen zu teilen: 1) das Westfriesische, auch Bauern- oder Landfriesisch genannt, weil es nur noch auf dem Lande gesprochen wird, ist noch lebendig auf den Inseln Schiermonnikoog und Terschelling sowie in der niederländischen Provinz Friesland westlich von einer Linie, die von De Lemmer sich nach dem Tjonger zieht, an diesem herausgeht bis zu seinem nördlichsten Punkt und sich dann nach Norden wendet zum westlichen Ufer des Lauwersees; ein großer Teil des ältern westfriesischen Gebietes ist durch die niederdeutsche Sprache eingenommen, zuletzt auch die friesischen Inseln Ameland, Vlieland und Texel und der nordöstliche Teil der Provinz Nordholland, der von den Niederländern »Westfriesland« genannt wird, während in Deutschland die Provinz Friesland (zwischen Vlie und Lauwers) diesen Namen trägt. In Friesland ist das friesische Stammes- und Sprachbewußtsein sehr lebendig, und schon seit zwei Jahrhunderten war man eifrig bemüht, durch literarische Produktionen in friesischer Sprache dieses Bewußtsein zu kräftigen. Ein angesehener älterer Dichter der Westfriesen ist Gysbert Japicx (geb. in Bolsward 1603, gest. daselbst 1666), dessen »Friesche rijmlerye« (Bolsward 1668) von Epkema (mit Wörterbuch, Leeuw. 1821 u. 1824, 2 Bde.) und von Dijkstra (Freantsjer 1853) herausgegeben wurde. Der vorzüglichste friesische Dichter des 18. Jahrh. war Jan Althuysen (geb. in Franeker 1715, gest. 1763), der auch »Friesche Rymlery« (Leeuw. 1755) herausgab. Als neuere Dichter sind zu nennen: P. C. Salverda (»Ijtlijcke friesche rijmckes«, Sneek 1824), R. Posthumus (1790–1859; »Prienweke fen friesche rijmmelerije«, Groning. 1824; »In Jouwerkoerke«, das. 1836; die Übersetzung der Shakespearschen Schauspiele »De keapman fen Venetien« und »Julius Cesar«, das. 1829; »As jimma et lije meie« [»As you like it«], Dockum 1842; »De Storm«, Leeuw. 1852); weiter I. G. van Blom (1796–1871; »Blommekoerke«, Dockum 1869) und vornehmlich die Brüder I. H. und E. Halbertsma. Des letztern (gest. 1858) bedeutendstes poetisches Produkt in dieser Mundart ist: »De Lapekoer fen Gabe Scroar« (Deventer 1822 u. ö.; deutsch von Clement, Leipz. 1847). Sonst dichteten oder schrieben noch im Westfriesischen: H. Sytstra (Zylstra), H. G. van der Veen, Waling Dijkstra, der seit seiner ersten Liedersammlung »Doaitse mei de noardsce balke« (Franeker 1848) eine Menge von Liedern, Erzählungen und Dramen herausgab, T. G. van der Meulen, A. Boonemmer, D. Hansma, G. Colmjon, der Lustspielverfasser T. Velstra, P. I. Troelstra, S. H. Hylkema u. a. Die Volkskomödie »Waatze Gribberts brilloft« stammt aus dem Anfang des 18. Jahrh. und ist im 19. Jahrh. öfters neu gedruckt. Ein beliebtes Volksbuch ist »It libben fen Aagtje Ijsbrants« von Eelke Meinderts (Dockum 1779; 4. Aufl., Leeuw. 1861). Mit der Bearbeitung und Herausgabe westfriesischer Sprach-, Rechts- und Geschichtsdenkmäler beschäftigt sich das 1826 gegründete »Friesch genootschap voor geschied-, oudheid-en taalkunde«, das die Zeitschrift »De vrije Fries« (seit 1839) herausgibt. I. Halbertsma gab eine westfriesische Übersetzung des Evangeliums Matthäi heraus (Lond. 1858), G. Colmjon eine des Evangeliums Lucä (Leeuw. 1879). Sammlungen westfriesischer Sprichwörter veranstalteten Hoeufft (Breda 1812) und Scheltema (Franeker 1826–31). Noch jetzt vergeht kein Jahr, in dem nicht verschiedene Publikationen im westfriesischen Dialekt erschienen; eine »Bloemlezing uit oud-, middel-en nieuwfriesche Geschriften« veranstaltete Hettema (Leid. 1887f., 3 Bde.); außerdem sind an periodischen Schriften zu nennen die Zeitschrift »Forjit my net« (Bolsward, seit 1871) und »For hûsen hiem« (Leeuw., seit 1888) und die Jahrbücher »Swanneblommen« (Bolsward, seit 1850) und »De Byekoer« (seit 1846). Ein unvollendetes Wörterbuch der westfriesischen Sprache, die Buchstaben A-F umfassend, hinterließ I. HalbertsmaLexicon frisicum«, Bd. 1, Haag 1874); ein »Friesch Woordenboek« von Dijkstra und Hettema erscheint seit 1896 (Leeuw.). Eine »Beknopte friesche Spraakkunst« gab G. Colmjon (Leeuw. 1863; 2. Aufl. von Ph. van Bolm, 1889) heraus.

2) Das Ostfriesische, die Sprache der Friesen zwischen Lauwersee und Wesermündung, ist dem Untergang am meisten anheimgefallen. Schon seit dem 15. und 16. Jahrh. begann das Niederdeutsche die ostfriesische Volkssprache zu verdrängen, was im Laufe der Zeit so vollständig geschah, daß jetzt in Ostfriesland und in der niederländischen Provinz Groningen niederdeutsch, nicht friesisch gesprochen wird. Man hat sich inkorrekterweise gewöhnt, dieses Niederdeutsche Ostfrieslands auch Ostfriesisch zu nennen; so ist in den »Ostfriesischen Wörterbüchern« von Stürenburg (Aurich 1857) und vonten Doornkaat-Koolman (Norden 1877–85, 3 Bde.) keineswegs die friesische Sprache zu suchen; vielmehr behandeln beide das ostfriesische Niederdeutsch, das allerdings gerade im Wortschatz Trümmer der alten friesischen Sprache bewahrt hat. Nur in zwei Resten hat sich die alte ostfriesische Sprache erhalten, nämlich auf der Insel Wangeroog und in drei von Sümpfen umgebenen Dörfern des sogen. Saterlandes (südwestlich von Oldenburg). Ausführliche Abhandlungen über beide Mundarten finden sich im »Friesischen Archiv« (hrsg. von Ehrentraut, Oldenb. 1847–54, 2 Bde.); über das Saterländische speziell vgl. Halbertsma und Posthumus, Onze reis naar Sagelterland (Franeker 1836) und Siebs, Das Saterland in der »Zeitschrift des Vereins für Volkskunde«, Bd. 3 (Berl. 1893). Ein wichtiges Werk des 17. Jahrh.: »Memoriale linguae frisicae«, vom Pastor Cadovius Müller (gest. 1725), über die ostfriesische Sprache im Harlingerland, gab Kükelhan (Leer 1875) heraus.

3) Das Nordfriesische wird, mehr oder weniger mit dänischen und niederdeutschen Elementen vermischt, noch gesprochen an der Westküste Südjütlands und Schleswigs bis Ribe und besonders auf den an dieser Küste liegenden Inseln, namentlich auf Sylt, Föhr, Amrum. Es gehört dazu außerdem der Dialekt der Insel Helgoland, der jedoch schon großen Zerstörungen durch fremde Elemente ausgesetzt gewesen ist. Auch im nordfriesischen Dialekt hat man sich poetisch versucht; erwähnenswert ist besonders das Lustspiel »Di gidtshals« (Flensb. 1809) von I. P. Hansen auf Sylt (1765–1855) und die von Siebs mit Sprachlehre und Wörterbuch herausgegebene Sammlung »Sylter Lustspiele« (Greifsw. 1898). Gedichte[153] in der Mundart von Föhr und Amrum gab Bremer heraus (»Ferreng an ömreng stacken üb rimen«, Halle 1888). Ein reichhaltiges Wörterbuch der nordfriesischen Mundart lieferte Outzen (»Glossarium der friesischen Sprache«, Kopenh. 1837); das Hauptwerk über den Dialekt ist Bendsens »Die nordfriesische Sprache nach der Moringer Mundart« (hrsg. von de Vries, Leid. 1860). Später erschien Johansens »Nordfriesische Sprache nach der Föhringer und Amrumer Mundart« (Kiel 1862) und Bremers Einleitung zu einer amringisch-föhringischen Lautlehre (im »Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung«, Norden 1888). Eine Übersicht über die gesamte friesische Literatur lieferte Mone im Anhang seiner »Übersicht der niederländischen Volksliteratur älterer Zeit« (Tübing. 1838); als bibliographisches Hilfsmittel ist empfehlenswert die Schrift »Essai d'une bibliographie de la littérature frisonne« (Haag 1859). Einen Überblick über die gesamten neufriesischen Volksmundarten, verbunden mit reichen sprachlichen und literarischen Notizen, findet man in Winklers »Algemeen nederduitschen friesch dialecticon« (Haag 1874, 2 Bde.). Die vollständigste zusammenfassende Sprachlehre der alt- und neufriesischen Dialekte bietet Siebs im »Grundriß der germanischen Philologie«, herausgegeben von Paul, Bd. 1 (2. Aufl., Straßb. 1902), eine Übersicht über die friesische Literatur daselbst, Bd. 2; vgl. auch Siebs, Zur Geschichte der englisch-friesischen Sprache (Halle 1889).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 152-154.
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