Kleinrussische Sprache und Literatur

[122] Kleinrussische Sprache und Literatur. Wie die Kleinrussen (in Galizien und Ungarn Ruthenen, auch Rotrussen oder Russinen genannt) einen von den Großrussen verschiedenen Volksstamm bilden (s. Russen), so sprechen sie auch ihre besondere Sprache, die mit dem eigentlichen Russischen (Großrussischen) zwar nahe verwandt ist, aber sich doch als selbständige Mundart neben diesem behauptet (s. Russische Sprache), und haben in ihr eine eigne Literatur ausgebildet. Das Kleinrussische zerfällt selbst wieder in zahlreiche Dialekte, die sich in drei Gruppen zusammenfassen lassen. 1) die südkleinrussische oder ukrainische Gruppe, in den Gouvernements Charkow, Poltawa, Jekaterinoslaw, Kiew, in den östlichen Teilen von Wolhynien und Podolien, in Süd-Tschernigow und Woronesh, im südwestlichen Teil von Kursk, im Cherson und am Asowschen Meer; 2) die nordkleinrussische oder Mundart von Polesje, im Gouv. Siedlez, im südlichen Minsk und Grodno, in Teilen von Wolhynien und Kiew und in Nordwest-Tschernigow; 3) die rotrussische oder ruthenische Gruppe, im westlichen Teil von Podolien und Wolhynien, in der größern östlichen Hälfte von Galizien, in den nordwestlichen Teilen der Bukowina und im Nordostrand von Ungarn. Grammatiken der kleinrussischen Sprache lieferten unter andern Pawslowskij (Petersb. 1818), Osadca (»Gramatika ruskogo jazyka«, 3. Aufl., Lemb. 1876) und Ogonowskij (»Gram. rusk. jaz.«, das. 1889); für Deutsche: E. Popowicz (»Ruthenisches Sprachbuch«, Czernowitz 1900, 2 Tle.) und M. Mitrofanowicz (»Grammatik der kleinrussischen Sprache«, Wien 1891, für den Selbstunterricht), ein deutsch-kleinrussisches Lexikon gab Partyckij (Lemb. 1867), ein kleinrussisch-deutsches Zelechowskij (das. 1882–86, 2 Tle.) heraus.

Die Literatur der Kleinrussen fällt in ihrer ersten Periode (11.–14. Jahrh.) mit der ältesten Periode der russischen Literatur überhaupt zusammen. Die in diesem Zeitraum in Süd- oder Kleinrußland entstandenen literarischen Denkmäler (die Nestorsche Chronik [s. d.], das Igorlied [s. Igor] etc.) pflegt man der Russischen Literatur (s. d.) überhaupt zuzurechnen, da Südrußland fast bis gegen das Ende dieser Periode mit dem übrigen Rußland in engerm politisch-nationalen Zusammenhang gestanden und der ethnographische und sprachliche Unterschied zwischen Großrussen und Kleinrussen sich eigentlich erst in der folgenden Periode schärfer herausgebildet hat. Vgl. A. N. Pypin, Über das Verhältnis der ruthenischen Literatur zur russischen (deutsch im »Archiv für slawische Sprachen«, Bd. 13, S. 434 ff.).[122]

Diese neue Periode der kleinrussischen Literatur wurde durch die politische Trennung Südrußlands von Großrußland herbeigeführt. Schon im Beginn des 14. Jahrh. hatte die Eroberung des südwestlichen Rußland durch die litauischen Fürsten begonnen (Eroberung Kiews 1321), und wenige Jahrzehnte später (1386) erfolgte die Vereinigung des Großfürstentums Litauen mit dem Königreich Polen, die, mit kurzen Unterbrechungen, drei Jahrhunderte, bis zur Rückgabe Kiews an Moskau (1686), dauerte. Während dieses Zeitraums erhielt die polnische Kultur einen vorwiegenden Einfluß wie auf die staatlichen und religiösen Verhältnisse, so auch auf die Weiterentwickelung der Literatur der Kleinrussen. Die Magnaten wurden polnisch und traten mit wenig Ausnahmen (Fürst Andrej Kurbskij, Fürst Konstantin Ostroshskij u. a.) zur römischen Kirche über; die Aufklärung des Volkes wurde von der orthodoxen Geistlichkeit vernachlässigt und die Leitung der Schulen geriet in die Hände der Jesuiten. Daher übernahmen im 16. Jahrh. kirchliche Laienbruderschaften die Pflege des Schulwesens, errichteten Druckereien und überwachten die Geistlichkeit. Infolge ihrer Fürsorge entstanden Schulen in Ostrog (1581 daselbst Druck der ersten vollständigen slawischen Bibel), Lemberg, Wilna, Kiew, Brest, Minsk u. in andern Städten. Einen Aufschwung erhielt jedoch das geistige Leben in Kleinrußland erst, als 1632 der Kiewsche Metropolit Peter Mohyla (Mogila 1597–1647) ein höheres Lehrinstitut, das sogen. Kollegium, nach dem Vorbilde der Krakauer Akademie mit lateinischer Unterrichtssprache errichtete und damit die westeuropäische Kultur in Kiew einführte. Namentlich durch die mittelalterliche scholastische Gelehrsamkeit haben er und seine Nachfolger die jesuitische Propaganda in Südrußland erfolgreich bekämpft. Unter den Schriftstellern dieser neuen Richtung ist Laz. Baranowitsch (gest. 1694) und besonders Joanikij Galjatowskij (gest. 1688) za nennen, der gegen Häretiker jeglicher Art mit der Feder zu Felde zog. Kiewsche Gelehrte, wie Epifanij Slawinezkij (gest. 1675), Simeon Polozkij (gest. 1682), Dmitrij Rostowskij (gest. 1709) u. a., haben hierauf die abendländische Kultur in das Großfürstentum Moskau verpflanzt, das sich bisher von jeglichen Neuerungen im Kirchen- und Staatsleben fernhielt. Der Einfluß der abendländischen Geistesrichtung zeigte sich auch bald in der Abfassung von dramatischen Mysterien und Krippenliedern. Erstere erhielten im sogen. Intermezzo eine nationale Färbung, und letztere lehnten sich nach und nach an die Weise der Volkspoesie an. Sodann verfaßten einige schriftgelehrte Kosaken geschichtliche Annalen vom Standpunkte des kleinrussischen Patriotismus. So schrieb zunächst im 17. Jahrh. ein Anonymus, der sich SamowidezAugenzeuge«) nannte, Annalen über Chmelnizkijs Befreiungskrieg und die noch fortdauernden Fehden. Im Anfang des 18. Jahrh. beschrieben ebenfalls zwei Kosaken, Gregor Hrabjanka und Samuel Welitschko, dieselben Kriege. Dennoch konnte sich weder in den mit Rußland vereinigten noch in den bei Polen verbliebenen Gebieten Kleinrußlands die heimatliche Literatur frei entwickeln; Russisch und Polnisch waren noch im 18. Jahrh. die einzig berechtigten Schriftsprachen.

Ende des 18. Jahrh. beginnt die gegenwärtige dritte Periode, die mit der allgemeinen Wiederbelebung des Slawentums und dem Aufkommen der Volksliteraturen zusammenfällt. Iwan Kotljarewskij (1769–1838, s. d.) war es, der die schöne, wohlklingende Volkssprache der Ukraine zur Schriftsprache zu erheben wagte. Er schrieb die travestierte »Äneïde« und zwei dramatische. Sittenbilder: »Natalka Poltavka« (»Natalie von Poltawa«) und »Moskal' čarivnyk« (»Der Soldat als Zauberer«). Nächst ihm förderte die Hebung des tief gesunkenen Volkes der geniale Grigorij Kwitka (1778–1843, Pseudonym Osnowjanenko). Er schilderte in seinen 14 ErzählungenMarusja« etc.) das Naturleben der Landbewohner. Taras Schewtschenko (1814–61, s. d.), der größte kleinrussische Dichter, feierte Freiheit und Aufklärung auf nationaler Grundlage und war der hervorragendste Vertreter der sogen. Ukrainophilen. Demnächst erschien eine ganze Reihe namhafter Schriftsteller, unter denen Nikolaj Kostomarow (1817–85, s. d.), P. Kulisch (geb. 1819, s. d.) und die Novellisten Marko Wowtschok (Pseudonym für Marija Markowitsch), Iwan Lewizkij (geb. 1838) und Al. Konisskij (geb. 1836) den ersten Rang einnehmen. Doch diese seit 1860 beginnende segensreiche literarische Wirksamkeit in Kleinrußland wurde durch kaiserliche Verordnung im Mai 1876 gewaltsam niedergeschlagen und streng untersagt, und die Weiterentwickelung der kleinrussischen Literatur ist somit gegenwärtig auf Galizien angewiesen. Hier behauptet der Lyriker Markijan Schaschkewitsch (1811–43) im literarischen Leben dieselbe Stellung, die Iwan Kotljarewskij in der Ukraine einnahm. Im Verein mit Jak. Holovackij (1814–1888, s. Golowatzkij) und Iwan Wahilewitsch (1811–66) gab er in Ofen (1837) den ruthenischen Almanach »Rusalka Dnistrowaja« heraus und erhob hierdurch die Volkssprache zur Schriftsprache. Aber erst das Aufkommen des Nationalitätsprinzips in Österreich (1848) veranlaßte auch das Aufleben der ruthenischen Literatur. Es zeichneten sich Nik. Ustianowitsch (1811–85) als lyrischer und Anton Mohilnitzkij (1811–73) als epischer Dichter (»Skyt Maljavskij«) aus. Isidor Scharanewitsch lieferte auf dem Gebiete der vaterländischen Geschichte viele gediegene Quellenstudien, A. Barwinskij eine Reihe von populären Geschichtswerken, I. Werchratskij, auch Dichter und ausgezeichneter Kenner des kleinrussischen Sprachschatzes, mehrere naturgeschichtliche Werke. O. Partyckij hat sich namentlich durch Herausgabe der literarischen Zeitschrift »Zorja« (1880–1885) verdient gemacht; nebenbei war er, wie auch Jewgenij Żelechowskij, als Lexikograph tätig (s. oben). Wassil Ilnizkij schrieb Novellen und populäre geschichtliche Erzählungen, Kornilo Ustianowitsch (geb. 1840) schöne epische und dramatische Gedichte, Gregor Hrihorjewitsch (Ceglińskij) gute Lustspiele. Zur Förderung der Volksaufklärung trägt viel der 1868 gestiftete Verein Prosvita bei, seit 1877 unter Leitung O. Ogonowskijs, der außer mehreren populären Schriften auch wissenschaftliche Werke, namentlich einen Kommentar zum »Igorlied« (1876), eine kleinrussische Grammatik (s. oben) und eine Geschichte der kleinrussischen Literatur (s. unten) veröffentlicht hat. – In der Bukowina traten als Dichter auf: Danilo Mlaka (Isidor Worobkewič) und namentlich Joseph Fedkowič (1834–88, s. d.), aus Nordungarn stammen A. Duchnowitsch und A. Pawlowitsch.

Die reiche und anziehende kleinrussische Volkspoesie ist heute Gegenstand einer allgemeinen Bewunderung, in erster Linie unbestritten die Lieder, die den häuslichen Herd besingen, und die Liebeslieder. Die epischen Lieder (dumy) stammen zumeist aus dem[123] Heldenzeitalter der Kosaken und stehen auf dem Gebiete der slawischen Volkspoesie nur den serbischen Heldenliedern an plastischer Kraft der Darstellung nach. Außerdem gibt es noch einen großen Schatz von Märchen, Sprichwörtern und Sagen. Größere Sammlungen von Volksliedern lieferten Waclaw z Oleska (Lemb. 1833) Žegota Pauli (das. 1839–40, 2 Bde.), Maximowitsch (drei Sammlungen, Mosk. 1834, Petersb. 1836, Kiew 1849), Antonowitsch und Dragomanow (Kiew 1874–75, 2 Bde.), Golowatzkij (Mosk. 1878, 4 Bde.). Eine Sammlung von Märchen veröffentlichten Rudtschenko (Kiew 1869–70, 2 Bde.), Dragomanow (das. 1876) u. a. Eine sehr reichhaltige Aufzeichnung kleinrussischer Volksliteratur findet sich in den »Arbeiten der von der Russischen geographischen Gesellschaft ausgerüsteten ethnographisch-statistischen Expedition ins westliche Rußland« (hrsg. von P. Tschubinskij, Petersb. 1872–78, 7 Bde.). Vgl. Pypin und Spasovič, Geschichte der slawischen Literaturen, Bd. 1 (deutsch, Leipz. 1880); Ogonowskij, Geschichte der kleinrussischen Literatur (kleinrussisch, Lemb. 1887–93, 3 Tle.); Petrow, Skizzen aus der Geschichte der ukrainischen Literatur des 19. Jahrhunderts (russ., Kiew 1884).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 122-124.
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