Ethik

[137] Ethik (v. griech. ēthos, »Charakter, Gesinnung«) heißt nach Aristoteles der Zweig der Philosophie, der sich mit der Betrachtung des menschlichen Wollens und Handelns, insofern es einer Wertbeurteilung unterliegt, beschäftigt (gleichbedeutend sind die Ausdrücke praktische oder Moralphilosophie). Während die Psychologie nach den natürlichen Gesetzen fragt, welche die Willenstätigkeit beherrschen, handelt es sich in der E. um die Vorschriften oder Normen, denen dieselbe folgen muß, um Billigung zu finden. Die E. ist also nicht, wie jene, eine erklärende (explikative), sondern eine normative Wissenschaft und in dieser Hinsicht am nächsten verwandt der Logik, die man bisweilen auch die E. des Denkens genannt hat. Doch besteht dabei der große Unterschied zwischen beiden, daß die Normen des richtigen Denkens sich aus jedem beliebigen Denkakt unschwer abstrahieren lassen, und daß ihre Verbindlichkeit von jedem anerkannt wird, während Normen des richtigen Wollens (die Sittengesetze), wie die Entwickelung der Wissenschaft gezeigt hat, nicht so leicht zu finden und gegen Zweifel viel schwerer sicherzustellen sind. Zeigt doch der flüchtigste Umblick in der Geschichte und Völkerkunde, daß die Urteile über das, was gut oder böse, lobens- oder tadelnswert sei, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sehr verschieden lauten, so daß sogar der Zweifel gerechtfertigt ist, ob es überhaupt allgemeine Normen, ein allgemein gültiges sittliches Ideal gibt. Der Ethiker muß also vor allem aus dem reichen Tatsachenmaterial, das die Sitten-, Religions- und Rechtsgeschichte, die Anthropologie und Völkerkunde liefern, einen Überblick über die ganze Mannigfaltigkeit sittlicher Anschauungen, die der menschliche Geist jemals erzeugt hat, zu gewinnen suchen. Erst auf Grund dieser historischen Vorarbeit kann die weitere Aufgabe angegriffen werden: die allgemeinen Prinzipien herauszustellen, auf die sich die unmittelbaren und die mittelbaren (in der konkreten Gestaltung der Formen menschlicher Lebensgemeinschaft sich bekundenden) Äußerungen des sittlichen Geistes zurückführen lassen. In dritter Linie ist endlich die Frage nach Wesen und Ursprung der sittlichen Normen zu beantworten; sind diese, das ist die Frage, dem menschlichen Geist von Natur innewohnende (angeborne, apriorische) Ideale, wie der ethische Apriorismus behauptet, oder sind sie Ergebnisse der geistigen Entwickelung der Menschheit, wie der ethische Empirismus will; ist das Sittliche ein Ausfluß des individuellen Geistes und in den Gesetzen desselben begründet (ethischer Individualismus), oder ist es nur verständlich als Äußerung des (die einzelnen umfassenden) Gesamtgeistes (ethischer Universalismus)? So weit reicht die theoretische E.; erst auf Grund derselben kann ein haltbares Gebäude der praktischen E. errichtet werden, welche die als richtig erkannten ethischen Prinzipien in ein System bringt und aus denselben Vorschriften für die einzelnen speziellen Lebensgebiete und Lebenslagen entwickelt. Die Pädagogik, die Rechts- und Staatswissenschaft entlehnen der allgemeinen, philosophischen E. einen Teil ihrer Voraussetzungen, aber auch auf das sittliche Leben selbst haben die Ergebnisse des ethischen Nachdenkens vielfach eingewirkt (man denke an den Einfluß Kants und Fichtes auf die Erneuerung des sittlichen Geistes in Deutschland), obwohl im allgemeinen zu beachten bleibt, daß die Begriffe des Sittlichen und Unsittlichen durch die E. nicht geschaffen, sondern vorgefunden und nur beleuchtet und weiterentwickelt werden.

Als die Anfänge einer praktischen E. kann man die vereinzelten Sprüche auffassen, in denen die Lebensweisheit[137] des Volkes ihren Ausdruck sucht (die Sprüche der »sieben Weisen« Griechenlands). Bei dem großen Einfluß, den die religiösen Anschauungen in der Jugend der Völker auf das ganze Leben ausüben, ist es kein Wunder, daß die sittlichen Grundsätze anfänglich immer mit jenen verknüpft sind, und daß die ältesten Zusammenstellungen ethischer Gebote von den großen Religionsstiftern herrühren (Moses, Buddha, Zarathustra). Der Begründer der eigentlich wissenschaftlichen E. ist Sokrates, der im Gegensatze zu den Sophisten (s.d.), die alle Begriffe und besonders die von »gut« und »böse« für subjektiv und willkürlich erklärten, die Grundforderungen der Sittlichkeit aus der menschlichen Vernunft heraus zu entwickeln suchte. Während nun mit Sokrates die Ethiker des griechischen Altertums im allgemeinen die sittlichen Gebote als durch die natürlichen Beziehungen der Menschen zueinander begründete und die sittlichen Zwecke als im irdischen Leben zu erreichende ansahen (natürliche, humane E.), so treten doch bereits bei Platon die Keime jener Auffassung hervor, welche die erstern aus der Zugehörigkeit des Menschen zu einer übernatürlichen Welt ableitet und die letztern als erst in einem höhern (überirdischen) Leben zu verwirklichende hinstellt (übernatürliche E.). In der christlichen E. des Mittelalters kam diese mit den religiösen Anschauungen des Christentums eng verknüpfte Richtung zur vollen Entwickelung (Augustinus, Thomas von Aquino). Der unverkennbare Mangel derselben liegt darin, daß sie leicht zur völligen Vernachlässigung der unmittelbaren sittlichen Aufgaben des irdischen Lebens (Weltflucht) und durch die scharfe Entgegenstellung der sinnlichen und übersinnlichen Seite der Menschennatur zur unfruchtbaren Askese führt. In beiderlei Hinsicht stimmt die christliche E. mit der des Buddhismus (s.d.) und der an diesen sich anlehnenden pessimistischen E. Schopenhauers überein. In der Neuzeit wurde, zuerst durch Bacon und Spinoza, die E. wieder auf ihre natürlichen Grundlagen zurückgeführt und von der Religion unabhängig gemacht. An den erstern schließt sich die ganze Reihe der hochbedeutsamen englischen Ethiker an, welche die Wesensbestimmung des Sittlichen vorwiegend auf empirischem Wege (aus der Betrachtung des menschlichen Lebens und seiner Bedingungen) zu gewinnen suchten (Hobbes, Locke, Shaftesbury, Ad. Smith, Hume, Bentham, Mill, Spencer), an den letztern die Reihe der spekulativen Ethiker, die den Begriff des Sittlichen aus dem Zusammenhang ihrer allgemeinen (metaphysischen) Weltanschauung zu entwickeln suchten (Leibniz, Kant, Fichte, Hegel, Schleiermacher, Schopenhauer, v. Hartmann).

Die philosophischen Moralsysteme lassen sich nach zwei Gesichtspunkten einteilen: 1) mit Rücksicht auf ihre Annahmen über den (objektiven) Grund und Zweck der sittlichen Normen, 2) mit Rücksicht auf die (subjektiven) Motive, auf die sie das sittliche Handeln des einzelnen zurückführen; daneben kommt noch der Gegensatz in Betracht, der in bezug auf den Grund der sittlichen Wertschätzung der Handlungen besteht, ob nämlich dieselbe abhängig gemacht wird von dem Verhältnis der Handlung zu den letzten sittlichen Zwecken oder von den Motiven derselben. In ersterer Hinsicht sind vor allem die Hauptformen der autoritativen (heteronomen) und der autonomen Systeme zu unterscheiden. Während die letztern sich anheischig machen, die Sittengebote als Folgerungen eines allgemeinen Prinzips abzuleiten und sie also zu begründen, weisen jene jede Begründung ab und berufen sich auf eine unbedingt anzuerkennende Autorität. Dies geschieht z. B. in der religiösen E., welche die Sittengebote als Gebote Gottes ansieht, die als solche, also ganz abgesehen von ihrem Inhalt, zum Gehorsam verpflichten; hätte deshalb Gott, so behauptet ganz folgerichtig der Scholastiker W. v. Occam, andre Gebote gegeben, so müßten wir vielleicht das, was jetzt »gut« heißt, »böse« nennen und umgekehrt. Während die Stärke der autoritativen E. darin liegt, daß sie über den unbedingt verpflichtenden Charakter der Sittengesetze eine gewisse Rechenschaft gibt, haben die autonomen Systeme den Vorzug, daß sie den Inhalt derselben zu begründen suchen. Der Eudämonismus (s.d.) betrachtet als den letzten Zweck, mit Rücksicht auf welchen alle Normen des Handelns zu rechtfertigen sind, die Glückseligkeit und zwar entweder als Egoismus (s.d.) lediglich die eigne, oder als Utilitarismus (s.d.) die der Gesamtheit. Ihm steht gegenüber der Evolutionismus, der entweder als individueller Evolutionismus die eigne Vervollkommnung oder als universeller Evolutionismus den Fortschritt des Ganzen als Endzweck hinstellt. Während der Eudämonismus außer in der antiken hauptsächlich in der neuern englischen Philosophie zur Ausbildung gelangt ist, wurde der Evolutionismus durch Leibniz begründet. Jedes Wesen strebt, ihm zufolge, der Vollkommenheit entgegen; den höchsten Grad derselben erreichen, heißt die höchste Tugend und zugleich das höchste Glück erlangen. Schon Lessing und Herder, hauptsächlich jedoch Fichte, Hegel, Schleiermacher und Krause erweiterten den individuellen Evolutionismus zum universellen: das Ziel der sittlichen Entwickelung wird nicht im Leben des einzelnen erreicht, sondern fällt mit dem der Weltentwickelung zusammen und besteht bei Fichte und Schleiermacher darin, daß die »sittliche Weltordnung« zum Sieg über die Naturordnung, bei Hegel darin, daß die Weltvernunft in der Geschichte zur Entfaltung gelangt; auch bei Schopenhauer und Hartmann tritt der Evolutionismus hervor, nur daß hier das Endziel der Entwickelung nicht als Neuschöpfung, sondern als Vernichtung (des Willens zum Leben) gedacht wird.

In bezug auf die Motive des sittlichen Handelns unterscheiden sich vor allem die Systeme, welche diese Motive in der Erkenntnis suchen (Verstandes- oder Vernunftmoral), von denen, die auf Affekte und Triebe zurückgehen (Gefühlsmoral). Schon Sokrates bezeichnete die richtige Erkenntnis als die Quelle der Sittlichkeit, ebenso wird bei den spekulativen Ethikern der neuern Zeit das ethische Verhalten als aus der richtigen (philosophischen) Einsicht hervorgehend gedacht, und auch bei Kant ist es die »Vernunft«, welche die Erfüllung des Sittengesetzes gebietet. Vor allem aber haben Hobbes, Locke und Bentham behauptet, daß die verständige Überlegung (Reflexion) den Menschen dazu führen müsse, sich nicht durch die Rücksicht auf die unmittelbare Lust und Unlust leiten zu lassen, sondern den gegenwärtigen kleinern Genuß dem zukünftigen größern zu opfern und im wohlverstandenen eignen Interesse auch den Interessen andrer zu dienen. Dagegen nahm Shaftesbury neben den von jenen allein anerkannten egoistischen Trieben im Menschen einen ebenso ursprünglichen sozialen Trieb an, während Hutcheson, Smith und Hume in dem Grundgefühl der Sympathie die Quelle sittlicher Handlungen sahen. Die neuern englischen Ethiker haben den Standpunkt des »reflektierenden Egoismus« durchgehends aufgegeben und[138] nehmen eine Mitwirkung von ethischen Affekten und Trieben neben der vernünftigen Erwägung an (ethischer Altruismus), aber sie betrachten dieselben nicht als ursprünglich gegebene, sondern als gewordene, und zwar sucht Mill dieselben als Ergebnisse der durch die Erziehung bewirkten Ideenverknüpfungen, Spencer als vererbte Resultate der Anpassung des einzelnen an das Zusammenleben mit andern zu erklären. Charakteristisch für die Entwickelung der E. in der Gegenwart sind einmal die von der Gesellschaft für ethische Kultur (s. Ethische Bewegung) geförderten Bemühungen um eine von dogmatischen (theologischen und philosophischen) Voraussetzungen unabhängige volkstümliche Sittenlehre, dann das Wiedererwachen des alle sittlichen Normen leugnenden ethischen Skeptizismus (Nietzsche, s.d.).

Als Hauptwerke aus der ethischen Literatur sind zu nennen: Kants »Kritik der praktischen Vernunft«, Fichtes und Schleiermachers »Sittenlehre«, Schopenhauers »Fundamente der E.«; Mill, Das Nützlichkeitsprinzip (»Gesammelte Werke«, deutsch von Gomperz, Bd. 1, Leipz. 1869); Spencer, Data of ethics (Lond. 1879); Derselbe, The principles of ethics (das. 1892–93, 2 Bde.; beide Werke deutsch von Vetter, Stuttg.); Paulsen, System der E. (6. Aufl., Berl. 1903, 2 Bde.); Wundt, Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens (3. Aufl., Stuttg. 1903, 2 Bde.); v. Hartmann, Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins (2. Aufl., Leipz. 1886); Schuppe, Grundzüge der E. und Rechtsphilosophie (Bresl. 1881); Döring, Handbuch der menschlich-natürlichen Sittenlehre (Berl. 1899); T. Achelis, Ethik (Leipz. 1898, Sammlung Göschen); Lipps, Die ethischen Grundfragen (Hamb. 1899); Ziegler, Geschichte der E. (Bonn u. Straßb. 1881 bis 1892, Bd. 1 u. 2); Jodl, Geschichte der E. in der neuern Philosophie (Stuttg. 1882–89, 2 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 137-139.
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