Thüringen

[513] Thüringen, das Land zwischen Werra und Saale, dem Südfuße des Harzes und dem des Thüringer Waldes, umfaßt den Hauptteil des Großherzogtums Sachsen-Weimar, das Herzogtum Sachsen-Gotha, die Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen, einen Teil der Herzogtümer Sachsen-Meiningen und Sachsen-Altenburg, den preußischen Regbez. Erfurt fast ganz und vom Regbez. Merseburg den westlichen Teil. Unter dem Namen thüringische Staaten versteht man alle Länder zwischen den preußischen Provinzen Sachsen u. Hessen-Nassau, Bayern und dem Königreich Sachsen, nämlich: das Großherzogtum Sachsen-Weimar, die Herzogtümer Sachsen-Meiningen, Sachsen-Koburg und -Gotha und Sachsen-Altenburg sowie die Fürstentümer Schwarzburg und Reuß, mit einem Gesamtflächeninhalt von 12,325 qkm (223,85 QM.) und (1905) 1,503,125 Einw. (darunter 1,455,949 Evangelische, 38,045 Katholiken und 4143 Juden). S. Karte »Sächsische Herzogtümer« und die Textbeilage »Gerichtsorganisation im Deutschen Reich« (Bd. 7). Über die thüringischen Mundartens. Deutsche Sprache, S. 745 (mit Karte).

[Geschichte.] Der Stamm der Thüringer, Nachkommen der Hermunduren, wird seit 450 n. Chr. genannt. Um 500 bestand ein großes Thüringerreich, das sich nördlich bis in den Harz, südlich bis zur Donau erstreckte und von Irminfrid, dem Schwiegersohn Theoderichs d. Gr., beherrscht wurde. Vom Frankenkönig Theuderich zweimal im Kampfe besiegt (532),[513] verlor Irminfrid Reich und Leben, während die Franken nicht nur über die Thüringer, sondern auch über die zwischen Mittelelbe und Harz sitzenden Angeln und Wariner die Oberhoheit errangen. Durch das Vordringen von Sachsen, Ansiedelung von Schwaben, Friesen und Franken wurde das Stammesgebiet der Thüringer verkleinert. Ihre Bekehrung zum Christentum gelang um 725 Bonifatius, der das erste Kloster im Lande zu Ohrdruf gründete. Unterdessen war T. erneut unter fränkische Herrschaft geraten, und Pippin ließ die 10 Gaue durch Grafen verwalten. Karl d. Gr. aber gründete um 804 gegen die Sorben die thüringische Mark, deren Vorsteher später Markherzoge (duces Sorabici limitis) genannt wurden. Als das Karolingerreich verfiel, errangen nach 908 die Herzoge von Sachsen die Oberhoheit über T., unter den Ottonen die Markgrafen von Meißen, zu deren Verwaltungsbereich es bis 1067 gehörte. Kirchlich war T. unmittelbar vom Erzbistum Mainz abhängig. Damals begann ein fränkisches Geschlecht, das unter Erzbischof Bardo (gest. 1051) nach T. verpflanzt worden war und reichen Besitz erworben hatte, die alteinheimischen Grafengeschlechter, die sich nach ihren Burgen benannten, zu überragen. Ludwig der Bärtige, der Ahnherr des ludovingischen Landgrafenhauses, ist mehr eine Gestalt der Sage als der Geschichte. Die Machtstellung des Hauses begründete aber sein Sohn Ludwig der Springer (gest. 1123, s. Ludwig 57), der wie seine Untertanen im Streit gegen Kaiser Heinrich IV. und Heinrich V. auf Seite der sächsischen Rebellen stand; unter diesem Einfluß kamen Hirsauer Mönche in die Klöster Reinhardsbrunn (1085 gegründet), Erfurt und Paulinzella. König Lothar von Sachsen verlieh 1130 dem Sohne Ludwigs des Springers die Würde eines Landgrafen von T. Landgraf Ludwig I. (gest. 1140) erwarb durch Heirat reichen Besitz in Hessen, stand aber ebenso wie sein Sohn Ludwig II., der Eiserne (s. Ludwig 58; 1140–1172), und sein Enkel Ludwig III., der Fromme (s. Ludwig 59; 1172–90), auf Seite der Staufer. Die Erwerbung der Pfalzgrafschaft Sachsen (s. Sachsen, S. 369) nach dem Sturze Heinrichs des Löwen (1180) war der Lohn dafür. Ludwigs III. Bruder, Hermann I. (s. Hermann 6 [S. 214]; gest. 1217), ward sie zuteil, und er folgte auch 1190 seinem kinderlos gestorbenen Bruder, wechselte aber in den Thronkämpfen wiederholt die Partei. Er war ein freigebiger Gönner der Minnesinger (Sage vom Sängerkrieg 1207) und begann den Bau des Landgrafenhauses auf der Wartburg, den sein Sohn Ludwig IV., der Heilige (s. Ludwig 60; 1216–27), vollendete. Die neue Frömmigkeit verdrängte gleichzeitig den Minnesang, begünstigte kirchliche Stiftungen und förderte die Fürsorge für Arme und Kranke, wie sie Ludwigs Gemahlin, die heilige Elisabeth (s. Elisabeth 15), übte. Auf Ludwig IV. folgte sein ältester Bruder, Heinrich Raspe (s. Heinrich 57; gest. 1247), denn Ludwigs einziger Sohn, Hermann II., war erst fünfjährig, er erbte 1238 Hessen u. starb 1241 kinderlos.

Mit Heinrich Raspe war das ludovingische Landgrafenhaus im Mannesstamm erloschen, aber Kaiser Friedrich II. hatte schon 1243 dem Markgrafen Heinrich den Erlauchten (s. Heinrich 43), als dem Sohne der ältesten Tochter Hermanns I., die Anwartschaft darauf erteilt. Wenn sich auch die Thüringer Grafen und Herren, selbst nach Landeshoheit strebend, dagegen wehrten, so blieb Heinrich doch im Thüringer Erbfolgekrieg Sieger. Heinrich das Kind (s. Heinrich 34), ein Enkel Ludwigs IV., wurde schließlich mit den hessischen Besitzungen abgefunden. Indes das wettinische Fürstengeschlecht faßte in T. schwer Fuß, da Heinrichs Sohn Albrecht (s. Albrecht 14) 50 Jahre lang als unfähiger Tyrann herrschte. Als König Adolf von Nassau (s. Adolf 1) Meißen als heimgefallenes Lehen einzog und T. von Albrecht kaufte, fand er bei den Herren im Land Unterstützung, konnte aber doch das neue Gebiet nicht behaupten. Sein Nachfolger, König Albrecht I. (s. Albrecht 1), wurde 31. Mai 1307 bei Lucka entscheidend geschlagen, und nach seines und Diezmanns Tode war Friedrich I., der Freidige (s. Friedrich 39), alleiniger Herr aller wettinischen Lande. König Heinrich VII. erkannte ihn 1310 als solchen an, und Friedrich war nun im Besitz unangefochten, wenn auch Kämpfe gegen äußere Feinde die Wiederaufrichtung der landesherrlichen Gewalt hinderten. Friedrich II., der Ernsthafte (s. Friedrich 40; 1323–49), machte den mächtigen Bund thüringischer Grafen, Herren und Städte (1334–35) unschädlich und siegte auch im sogen. Thüringer Grafenkrieg; insbes. die Grafen von Weimar-Orlamünde (s. Orlamünde) nahmen 1346 alles Eigengut auf Lebenszeit vom Landgrafen zu Lehen.

Der Besitz der Wettiner in T. mehrte sich noch, als Friedrich III., der Strenge (s. Friedrich 41; 1349 bis 1381), durch Heirat die Grafschaft Henneberg und sein jüngerer Bruder, Balthasar, die »Pflege Koburg« dem Hause zubrachten. Auch den Vögten von Plauen, Gera und Weida wurde 1354–58 Besitz abgenommen. Mit Erlaubnis des Kaisers Karl IV. schlossen die Wettiner 1373 eine Erbverbrüderung mit den Landgrafen von Hessen. Für die hohe Blüte Erfurts in dieser Zeit zeugt die Gründung einer Universität (1392). Bei der Teilung der wettinischen Lande unter die drei Söhne Friedrichs III. (1382) fiel T. an Balthasar (gest. 1406), der ein tüchtiger Fürst war und die Erbverbrüderung mit Hessen 1392 erneuerte. Unter seinem unfähigen Sohne, Friedrich IV., dem Einfältigen (s. Friedrich 42), sank die thüringische Fürstenmacht. Nach seinem kinderlosen Ableben (1440) fiel T. an die kurfürstlich sächsische Linie aus dem Geschlechte Friedrichs des Streitbaren, und zwar besaßen die Brüder, Kurfürst Friedrich II., der Sanftmütige (s. Friedrich 67), und Herzog Wilhelm III., der Tapfere (s. d.), T. zunächst gemeinsam, bis es letzterer bei der Teilung von 1445 allein bekam. Die Teilung führte 1446 zum Bruderkrieg (s. Sachsen, S. 378), der erst 1451 endete. Bei Wilhelms kinderlosem Tode (1482) fiel T. an Friedrichs II. Söhne, Ernst und Albrecht, die am 26. Aug. 1485 zur endgültigen Länderteilung schritten (s. Sachsen, S. 378). Seitdem verschmilzt T. mit den übrigen Ländern der Ernestinischen Linie, der thüringische Kreis aber, so hieß der der Albertinischen Linie zugefallene Teil Thüringens, mit Kursachsen.

Vgl. die Geschichtskarte von Deutschland im 4. Bd.; »Thüringische Geschichtsquellen« (Jena 1854–1907, Bd. 1–9); »Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae« (hrsg. von Dobenecker, Jena 1896–1904, Bd. 1–3; bis 1247); »Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte« (das. 1854 ff.); Knochenhauer, Geschichte Thüringens in der karolingischen und sächsischen Zeit (Gotha 1863) und zur Zeit des ersten Landgrafenhauses (das. 1871); Posse, Die Wettiner. Genealogie des Gesamthauses Wettin (Leipz. 1897); Pelka, Studien zur Geschichte des Untergangs des alten Thüringischen Königreichs im J. 531 n. Chr. (Dissert., Königsb. 1903); Gebhardt, Thüringische Kirchengeschichte (Gotha 1880–81,[514] 3 Bde.); Bechstein, Thüringer Sagenbuch (Wien 1858); »Bau- und Kunstdenkmäler Thüringens« (bisher 33 Hefte, bearbeitet von Lehfeldt und Voß, Jena 1888–1907); Lehfeldt, Einführung in die Kunstgeschichte der thüringischen Staaten (das. 1900); Hertel, Thüringer Sprachschatz (Weim. 1895, mit Sprachkarte); Regel, T., ein geographisches Handbuch (Jena 1892–96, 3 Tle.; »Grundriß« in 1 Bd., das. 1897); Scobel, Thüringen (Bd. 1 der Monographien »Land und Leute«, 2. Aufl., Bielef. 1902); »T. in Wort und Bild« (hrsg. von den thüringer Pestalozzivereinen, Leipz. 1900–02, 2 Bde.); Schlüter, Die Siedelungen im nordöstlichen T. (Berl. 1903); Habenicht und Böhmer, Politische Karte von T., 1:250,000 (Gotha 1903); weitere Literatur bei Artikel »Thüringer Wald« (S. 517).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 513-515.
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