Nassau [1]

[434] Nassau, ehemaliges deutsches Herzogtum, das infolge des Krieges von 1866 an den preußischen Staat kam und gegenwärtig (einschließlich der Kreise Frankfurt a. M., Stadt und Land, und Biedenkopf) den Regierungsbezirk Wiesbaden der Provinz Hessen-Nassau (s. d.) bildet. Das Herzogtum umfaßte 4700 qkm (85,5 QM.) mit (1864) 468,311 Einw.

Geschichte. Im jetzigen N. wohnten zur Zeit der Römer und diesen untertan die kattischen Mattiaken, dann die Alemannen. Das Christentum wurde schon im 4. Jahrh. von Trier und Mainz aus verbreitet. Nach der Unterwerfung der Alemannen durch Chlodwig 496 wurde N. mit dem fränkischen Reich vereinigt, von fränkischen Einwohnern besetzt und kam 843 zum ostfränkischen oder Deutschen Reich. Um 815 gab es einen Grafen Hatto I. im Gau Kunigessundra (Ämter Wiesbaden und Hochheim). Mit seinem Geschlecht waren wohl die Grafen von Laurenburg (im Gau Esterau, wofür seit 1643 der Name Grafschaft Holzappel aufkam) verwandt, unter denen sich bis 1100 mehrfach der Name Drutwin findet. Die Brüder Dudo und Drutwin erbauten auf einem Berg auf dem linken Ufer der Lahn über einem 915 zuerst erwähnten Hofgut (curtis Nassowa) die Burg N. Drutwins Sohn Ruprecht I. (gest. 1154) ist der Stammvater des nassauischen Grafengeschlechts, und dessen Sohn Ruprecht II. (gest. 1178) nannte sich seit 1160 Graf von N. Die Lehnshoheit über die Burg N. ging 1192 von dem Erzstift Trier auf das Reich über. Um 1195 wurde Weilburg erworben. Graf Heinrich (gest. 1247) schenkte die Hälfte der Stadt Siegen 1224 dem Erzstift Köln, was zu einem 200jährigen Streit zwischen seinen Nachkommen und dem Erzstift führte, bis dieses seine Ansprüche auf Siegen wieder aufgab. Von seinen Söhnen erhielt bei der Teilung vom 17. Dez. 1255 Walram II. die Besitzungen auf dem linken Lahnufer und wurde Stifter der Walramschen Hauptlinie, Otto I. (gest. 1289), dem die Lande auf dem rechten Lahnufer zufielen, Stammvater der Ottonischen oder N.-Oranischen Linie.

Otto I. hinterließ drei Söhne, die erst gemeinsam regierten, aber 1303 teilten: der älteste, Heinrich I. (gest. 1343), begründete die Linie N.-Siegen und 1328 nach dem Tode seines jüngsten Bruders, Johann, den er beerbte, die Linie N.-Dillenburg, der zweite, Emich (gest. 1334), die alte Hadamarer Linie. Letztere erlosch 1394 im Mannesstamm, und ihre Besitzungen fielen meist an N.-Dillenburg. Heinrichs I. Söhne teilten wieder, und der jüngere, Heinrich, begründete auf dem Westerwalde die Nebenlinie N.-Beilstein, die 1561 ausstarb. Der ältere, Otto II., regierte in Dillenburg bis 1350; seine vier Enkel, die seit 1416 gemeinsam regierten, erwarben 1420 die Grafschaft Vianden im Herzogtum Luxemburg. Der älteste, Adolf, erwarb 1384 durch Heirat die Grafschaft Dietz, 1379 die Grafschaft Arnsberg als Reichslehen und hinterließ bei seinem Tode 1420 die Hälfte der erstern dem Hause N., während die andre seiner mit einem Herrn v. Eppenstein-Münzenberg vermählten Tochter Jutta zufiel. Dem dritten Enkel, Engelbert I., der allein die Dillenburger Linie fortsetzte, fielen infolge seiner Vermählung mit Johanne von Polanen ausgedehnte Besitzungen in den Niederlanden[434] (Breda) zu. Seine Enkel teilten 1475: Engelbert II. (gest. 1504) erhielt die Gebiete in den Niederlanden, Johann V. (gest. 1516) die in N. Des letztern Sohn Wilhelm der Reiche (1516–59) führte mit Hilfe des Sarcerius (s. d.) die Reformation ein und beendete den katzenelnbogenschen Erbfolgestreit mit dem Landgrafen von Hessen 1557 durch einen Vergleich, durch den er 450,000 Gulden und den hessischen Anteil an der Grafschaft Dietz erhielt. Sein Bruder Heinrich III. hatte 1504 von seinem Oheim Engelbert II. die niederländischen Besitzungen geerbt; Heinrichs Sohn Renatus erwarb 1530 aus der Erbschaft seiner Mutter das Fürstentum Orange in Südfrankreich und hinterließ, als er 1544 kinderlos starb, dies und die niederländischen Besitzungen seinem Vetter Wilhelm 1., dem Schweiger, dem ältern Sohn Wilhelms des Reichen, der auf die nassauischen Stammlande verzichtete und die berühmte alte Linie N.-Oranien begründete, die 1702 mit Wilhelm III. erlosch (s. Oranien). Wilhelms des Reichen jüngerer Sohn, Johann VI., regierte in N.-Dillenburg 1559 bis 1606. Von seinen Söhnen gründete Johann der Mittlere (gest. 1623) die Linie N.-Siegen, die sich später in einen katholischen und einen reformierten Zweig teilte und erst 1743 erlosch, Georg (gest. 1623) die neue Linie N.-Dillenburg, die 1739 ausstarb. Ein andrer Sohn Johanns VI., Ern st Kasimir (gest. 1632), Statthalter von Friesland und Groningen, begründete 1606 die Linie N.-Dietz (Neu-Oranien). Sein Sohn Wilhelm Friedrich wurde 1654 Reichsfürst, und dessen Enkel Johann Wilhelm Friso erbte 1702 die oranischen Besitzungen in den Niederlanden und den Titel Prinz von Oranien. Dessen Sohn Wilhelm IV. vereinigte 1743 alle Besitzungen der N.-Ottonischen Linie und ward 1748 Erbstatthalter der Niederlande. Sein Sohn Wilhelm V. (gest. 1806) verlor diese Würde 1795 und ward 1801 durch die Abteien Fulda und Korvei entschädigt, die indes sein Sohn Wilhelm VI. ebenso wie seine nassauischen Stammlande 1806 verlor, da er sich weigerte, dem Rheinbund beizutreten. Nach Napoleons Sturz ward er als Wilhelm I. (s. d.) 1815 König der Niederlande und erhielt für die in Deutschland abgetretenen ottonischen Lande das Großherzogtum Luxemburg als Entschädigung. Sein Stamm herrscht noch in den Niederlanden (s. d.). Der jüngste Sohn Johanns VI. aus seiner dritten Ehe, Johann Ludwig (gest. 1653), stiftete die neue Hadamarer Linie, stellte in seinen Landen den Katholizismus wieder her und wurde 1650 Reichsfürst; mit seinem Enkel Franz Alexander erlosch 1711 diese Linie.

Von Walrams Söhnen trat der ältere, Diether, in den Dominikanerorden und ward 1300 Erzbischof von Trier; der jüngere, Adolf (s. d. 1), trat 1277 das väterliche Erbe an und ward 1292 deutscher König, verlor aber in der Schlacht bei Göllheim 2. Juli 1298 Thron und Leben. Bei der Teilung unter Adolfs Enkel 1355 begründete Adolf II. die alte Idsteiner Linie (Herrschaften Idstein und Wiesbaden), Johann I. die alte Weilburger Linie (mit Weilburg, Kleeberg, Bleidenstadt); doch behielten beide Brüder gemeinschaftlich mit dem nassau-oranischen Hause die Burg N., die Esterau und die Vogtei Schönau. Die alte Idsteiner Linie, seit 1540 evangelisch, erlosch 1605. Johann I. von Weilburg (gest. 1371) wurde 1366 Reichsfürst, aber seine Nachkommen verzichteten auf diese Würde. 1442 teilten seine Enkel Philipp II. und Johann II., und letzterer gründete in den linksrheinischen Besitzungen die alte Saarbrücksche Linie, die mit seinem Enkel Johann III. 1574 ausstarb. Philipp III. von Weilburg (1523–59) ward protestantisch; sein Enkel Ludwig II. erwarb 1605 die Lande der alten Idsteiner Linie zurück. Er hinterließ 1627 drei Söhne, von denen Wilhelm Ludwig 1629 die neue Saarbrücker Linie (Ottweiler, Saarbrücken und Usingen), Johann die neue Idsteiner Linie (Idstein, Wiesbaden und Lahr) und Ernst Kasimir die neue Weilburger Linie (Weilburg, Kirchheim, Merenberg und Kleeberg) gründeten. Die Idsteiner Linie erlosch schon 1721 mit Georg August Samuel, dem 1688 vom Kaiser die Fürstenwürde erneuert worden war, worauf ihre Besitzungen an N.-Ottweiler fielen. Die Söhne des Stifters der neuen Saarbrücker Linie, Wilhelm Ludwig (gest. 1640), teilten 1659, so daß Johann Ludwig Ottweiler, Gustav Adolf Saarbrücken und Walrad Usingen erhielten. Die Linie N.-Ottweiler starb 1728, die Saarbrücker Nebenlinie schon 1723 aus. Länger bestand die Linie N.-Usingen, deren Stifter Walrad 1688 gleichfalls gefürstet wurde; dessen Enkel Karl (1718–75), durch das Erlöschen der Ottweiler und Saarbrücker Linien Herr aller neusaarbrückischen Besitzungen, teilte 1735 mit seinem Bruder Wilhelm Heinrich II. und nahm für sich die Länder rechts des Rheins; Wilhelm Heinrich erhielt Saarbrücken und Ottweiler, doch erlosch seine Linie schon 1797 mit seinem Enkel Heinrich. Karls Sohn Karl Wilhelm (1775–1803) schloß 1783 mit N.-Saarbrücken, N.-Weilberg und N.-Dietz den Nassauischen Erbverein, durch den die Zusammengehörigkeit und Unveräußerlichkeit von ganz N. und das Recht der Erstgeburt anerkannt wurden. Zur Entschädigung für die linksrheinischen Besitzungen, die im Frieden von Lüneville 1801 an Frankreich fielen, erhielt Karl Wilhelm durch den Reichsdeputationshauptschluß 1803 die mainzischen Ämter Königstein, Höchst, Rüdesheim, Hochheim, Oberlahnstein, Eltville u.a., das pfälzische Amt Kaub, die kurkölnischen Ämter Deutz und Königswinter, die hessischen Ämter Katzenelnbogen, Braubach, Ems, Kleeberg, die Abteien Limburg, Romersdorf, Bleidenstadt, Sayn, die Grafschaft Sayn-Altenkirchen und die Reichsdörfer Soden und Sulzbach, im ganzen 1982 qkm mit 92,000 Einw. Ihm folgte 1803 sein Bruder Friedrich August, der mit seinem Vetter Friedrich Wilhelm von N.-Weilburg (1788–1816), der für das im Lüneviller Frieden verlorne Amt Kirchheimbolanden 1803 die kurtrierschen Ämter Ehrenbreitstein, Montabaur, Limburg u.a. (zusammen 881 qkm mit 37,000 Einw.) bekommen hatte, 30. Juni 1806 einen Vertrag dahin schloß, daß die Besitzungen beider Linien einen Gesamtstaat N. bilden sollten. Beide Fürsten traten 1806 unter Annahme des Herzogstitels dem Rheinbund und 1815 dem Deutschen Bunde bei. Durch den Vertrag vom 31. Mai 1815 trat N. mehrere Ämter, wie Ehrenbreitstein, Deutz, Königswinter u.a., an Preußen ab und erhielt dafür die ehemals oranischen Besitzungen Dietz, Hadamar, Dillenburg und Beilstein. Nachdem die Herzoge 1808 die Leibeigenschaft aufgehoben und 1811 die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz sowie ein neues Steuergesetz eingeführt hatten, gaben sie dem Lande 1. und 2. Sept. 1814 eine landständische Verfassung. Friedrich Wilhelm starb 8. Jan. 1816, und sein Sohn Wilhelm wurde durch den Tod Friedrich Augusts, mit dem am 24. März 1816 die Linie N.-Usingen erlosch, Herzog von ganz N., das 4515 qkm mit 340,000 Einw. umfaßte.

Herzog Wilhelm (1816–39; s. d.) berief 1818 die erste Ständeversammlung, die mit dem Minister[435] v. Marschall wegen der Domänen in Streit geriet. Nach längern Zwistigkeiten übernahmen 1836 die Stände eine jährliche Last von 140,000 Gulden für die seitens der Domänen durch Aufhebung der Leibeigenschaft erlittene Einbuße, wogegen 1837 die Domänen für unveräußerlich erklärt wurden. Am 1. Jan. 1836 trat N. dem Deutschen Zollverein bei. Auf Herzog Wilhelm folgte dessen Sohn Adolf (1839–66), der im April 1848 ein neues Wahlgesetz (nur eine aus indirekten Wahlen hervorgegangene Kammer) erließ und mit dem Landtag eine neue Verfassung vereinbarte, die am 28. Dez. 1849 veröffentlicht wurde. Auch schloß sich N. der preußischen Union an, lenkte aber nach Herstellung des alten Bundestags in das reaktionäre Fahrwasser ein. Die Verfassung von 1849 wurde 28. Nov. 1851 aufgehoben und wieder zwei Kammern eingeführt. Erst 1863 siegten in der Zweiten Kammer die Liberalen und forderten sogleich die Wiederherstellung der Verfassung von 1849. Die Regierung löste den Landtag 1864 und 1865 auf, doch ohne Erfolg, da die Liberalen nun in beiden Kammern die Mehrheit erlangten. Von seinem Adjutanten, General v. Zimiecki, beeinflußt, hielt sich der Herzog in der deutschen Frage ganz zu Österreich, verfügte 1866 bereits 4. Mai die Mobilmachung des nassauischen Kontingents und forderte 5. Juni von den Kammern die Bewilligung eines außerordentlichen Kredits von 500,000 Gulden. Der Landtag lehnte, nachdem die Regierung 14. Juni am Bundestag für Österreich gestimmt hatte und der Krieg ausgebrochen war, 26. Juni und 6. Juli die Kreditforderung ab, worauf er aufgelöst wurde. Das nassauische Kontingent, eine Brigade, sollte sich eigentlich mit dem 8. Bundeskorps vereinigen, dann aber, als der Fürst von Hohenzollern von Norden her in N. einrückte, die preußischen Truppen abwehren und marschierte zwecklos hin und her. Der Herzog verließ 15. Juli seine Residenz und ging erst nach Mainz, dann nach Augsburg, während die nassauischen Truppen bei Günzburg an der Donau konzentriert wurden. Der Landrat von Wetzlar, v. Diest (s. d.), übernahm unter Zustimmung der Bevölkerung als preußischer Zivilkommissar die Verwaltung des Landes, das durch königliches Patent vom 3. Okt. 1866 mit Preußen vereinigt wurde; es bildete mit Hessen-Homburg und Frankfurt a. M. den Regbez. Wiesbaden der neuen Provinz Hessen-N., erhielt aber 1867 ein besonderes Konsistorium und einen eignen Kommunallandtag. Der Herzog (s. Adolf 5, gest. 17. Nov. 1905), der am 8. Sept. 1866 die Truppen und die Beamten ihres Eides und Dienstes entließ, schloß 22. Sept. 1867 mit Preußen einen Absindungsvertrag, in dem er gegen den Verzicht auf N. eine Entschädigung von 15 Mill. Gulden nebst einigen Schlössern bekam; auch blieb ihm für den Fall des Erlöschens der oranischen Linie im Mannesstamm die Anwartschaft auf Luxemburg, wo er 1890 Großherzog wurde. Vgl. Hennes, Geschichte der Grafen von N. bis 1255 (Köln 1843); v. Schütz, Geschichte des Herzogtums N. (Wiesbad. 1853); v. Witzleben, Genealogie und Geschichte des Fürstenhauses N. (Stuttg. 1855); Schliephake, Geschichte von N. (Bd. 1–4, Wiesb. 1865–70; fortgesetzt von Menzel, Bd. 5–7, das. 1879 bis 1889) und Von dem Ursprung des Hauses N. (das. 1857); Sauer, Das Herzogtum N. in den Jahren 1813–1820 (das. 1893); Dönges, Die Regenten über die ehemaligen N.-Dillenburger Lande (Dillenb. 1906); v. Goeckingk, Geschichte des nassauischen Wappens (Görlitz 1880); »Codex diplomaticus nassoicus«, hrsg. von Menzel und Sauer (das. 1885–87, Bd. 1); »Annalen des Vereins für nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung« (das. 1827 ff., bisher 34 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 434-436.
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