Herbart

[192] Herbart, Johann Friedrich, berühmter Philosoph, geb. 4. Mai 1776 in Oldenburg (wo sein Vater Thomas Gerhard H., gest. 1809, Justizrat war), gest. 14. Ang. 1841 in Göttingen, wurde hauptsächlich von seiner Mutter Lucie Margarete, geborne Schütte, einer »seltenen und merkwürdigen Frau« (gest. 1802), erzogen, am Gymnasium seiner Vaterstadt unterrichtet und besuchte, 18 Jahre alt, von Fichtes Ruf angezogen, die Universität Jena. Schon als Knabe hatte er Hang zum philosophischen Nachdenken, Sinn für Naturwissenschaften und musikalisches Talent als fertiger Klavier- und Violoncellspieler (in späterer Zeit auch als Komponist) an den Tag gelegt, Eigenschaften, die auf die Gestalt seines nachherigen Systems von Einfluß gewesen sind. Gegen Fichtes Wissenschaftslehre legte er diesem persönlich »Bemerkungen« und in der Folge »Beurteilungen« der ersten Schellingschen Schriften vor, in denen seine Abwendung von dem nachkantischen Idealismus deutlich erkennbar ist. Die Grundzüge eines eignen Systems, zunächst die Anwendung der Mathematik auf Psychologie, entwarf er 1798 während seines Aufenthalts als Hauslehrer in Bern im v. Steigerschen Haus, wo er pädagogische Erfahrungen sammelte und sich mit Pestalozzis Unterrichtsmethode vertraut machte. 1802 habilitierte er sich zu Göttingen, wurde 1805 außerordentlicher Professor daselbst und folgte 1809 dem Ruf als ordentlicher Professor nach Königsberg, wo er zugleich als Direktor des auf seinen Wunsch gegründeten pädagogischen Seminars tätig war. Da sein Wunsch, nach Hegels Tode nach Berlin berufen zu werden, sich nicht erfüllte, kehrte er 1833 nach Göttingen zurück, wo er bis an sein Ende wirkte. Herbarts Hauptschriften sind nach chronologischer Folge: »Allgemeine Pädagogik« (Götting. 1806); »Allgemeine praktische Philosophie« (das. 1808); »Hauptpunkte der Logik und Metaphysik« (das. 1808); »Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie« (Königsb. 1815, 5. Aufl. 1850, das bekannteste seiner Werke); »Lehrbuch zur Psychologie« (das. 1816, 3. Aufl. 1850); »Psychologie als Wissenschaft, neu begründet auf Erfahrung, Metaphysik[192] und Mathematik« (das. 1824–25, 2 Bde.); »Allgemeine Metaphysik nebst den Anfängen der philosophischen Naturlehre« (das. 1828–29, 2 Bde.) und »Enzyklopädie der Philosophie aus praktischen Gesichtspunkten« (Halle 1831, 2. Aufl. 1841). Unter Herbarts kleinern Arbeiten sind hervorzuheben: »Pestalozzis Idee eines Abc der Anschauung« (Götting. 1802, 2. Aufl. 1804); »De Platonici systematis fundamento« (das. 1805); »Theoriae de attractione elementorum principia metaphysica« (Königsb. 1812; deutsch von Thomas, Berl. 1859); »Über meinen Streit mit der Modephilosophie dieser Zeit« (1814); »Pädagogisches Gutachten über Schulklassen« (Königsb. 1818); »De attentionis mensura causisque primariis« (das. 1822); »Über die Möglichkeit und Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden« (das. 1822); »Umriß pädagogischer Vorlesungen« (Götting. 1835, 2. Aufl. 1841; neue Ausg. mit Einleitung und Anmerkungen von H. Zimmer, Halle 1900); »Zur Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens« (Götting. 1836). Seine »Kleinern philosophischen Schriften und Abhandlungen« (Leipz. 1842–43, 3 Bde.) nebst einer biographischen Skizze gab Hartenstein heraus, der auch eine Ausgabe der »Sämtlichen Werke« (das. 1850–1852, 12 Bde.; neuer Abdruck, Hamb. 1883–93; dazu Bd. 13: Nachträge und Ergänzungen, 1893) besorgte. Eine neue Ausgabe der Werke in chronologischer Ordnung veranstaltet Kehrbach (bisher 10 Bde., Langensalza 1887–1903). Herbarts »Pädagogische Schriften« wurden unter anderm herausgegeben von Willmann (Leipz. 1874–75, 2 Bde.) und von Bartholomäi (7. Aufl. von Sallwürk, Langensalza 1903, 2 Bde.); im Auszug von E. Wagner (»Vollständige Darstellung der Lehre Herbarts«, 10. Aufl., das. 1903; dazu als Kommentar: »Die Praxis der Herbartianer«, 9. Aufl., das. 1904). Am 100jährigen Gedächtnistag seiner Geburt ist ihm 1876 in seiner Vaterstadt ein Denkmal (Kolossalbüste) gesetzt worden. Sein Bildnis s. Tafel »Deutsche Philosophen I«.

Herbarts Philosophie hat sich aus der Kantschen nach der realistischen Seite hin entwickelt, wie die Fichtes nach der idealistischen Seite. Während der letztere von den beiden Faktoren der Erfahrung den objektiven (das Ding an sich) beseitigte und nur den subjektiven (das Ich) mit seinen angebornen Tätigkeitsformen behielt, sah H. die gesamte Erfahrung (der Materie und Form nach) als objektiv (vom Subjekt nicht gemacht, sondern ihm gegeben) an, daher sein System Realismus heißt. H. hat sich selbst (am Schluß der Vorrede zu seiner »Allgemeinen Metaphysik«) einen »Kantianer« genannt, aber »vom Jahr 1828«. Die Philosophie ist ihm »Bearbeitung der Begriffe«, indem er, wie Kant, mit der Erfahrung anfängt, aber die durch diese gegebenen Begriffe einer Bearbeitung, die entweder deren Form oder deren Inhalt gilt, unterwirft. Aus jener geht die Logik, die daher nur eine formale sein kann und auf die Deutlichkeit der Begriffe abzielt, aus dieser gehen die beiden andern Hauptzweige der Philosophie, Metaphysik und Ästhetik, hervor. Die Metaphysik entsteht durch die Bearbeitung derjenigen Erfahrungsbegriffe, die, weil unabweislich gegeben, nicht abgewiesen, aber zugleich, weil sie Widersprüche enthalten, so, wie sie gegeben sind, nicht behalten werden können, sondern berichtigt werden müssen, die Ästhetik durch die Bearbeitung derjenigen in der Erfahrung gegebenen Begriffe. die im auffassenden Subjekt einen Zusatz der Billigung oder Mißbilligung herbeiführen. Begriffe der ersten Art (metaphysische) bedürfen, da sie als gegeben gedacht werden müssen, als widersprechend aber nicht gedacht werden können, einer Ergänzung, um denkbar zu werden. Begriffe der zweiten Art (ästhetische) bedürfen, wenn sie allgemein gültige (die begleitenden Wertzusätze allgemeine und notwendige) sein sollen, der Zurückführung auf ihre ursprüngliche Evidenz, vermöge deren sie klar sind, ohne bewiesen zu werden. Zu den sich widersprechenden metaphysischen Begriffen, die Probleme werden, gehören »das Ding mit mehreren Merkmalen«, das also eines und vieles zugleich sein soll, »die Veränderung«, bei der ein Ding dasselbe und doch ein andres sein soll, »das Ich«, das sich selbst vorstellen, d. h. sein Sichvorstellen vorstellen muß, und so ins Unendliche fort, so daß der Ichbegriff nicht zustandekommt. Der bunten Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt muß eine ebenso bunte Mannigfaltigkeit qualitativ verschiedener, obgleich ihrer Qualität nach unbekannt bleibender Seienden, einfacher Realen, zugrunde liegen, deren Position »absolut«, d. h. von der Setzung durch das wahrnehmende Subjekt unabhängig (gegen Fichte) ist. Diese, deren streng einfache Qualität (wie jene der chemischen Grundstoffe) unveränderlich, deren Inneres jedoch eines »wirklichen Geschehens« (der Selbsterhaltung gegen Störungen von seiten andrer) fähig ist, machen das wahre An-sich der Welt, das wechselnde Zusammen und Nichtzusammen, das mehr oder minder vollkommene Zusammen derselben macht den realen Grund des Wechsels und der Beschaffenheit der sinnenfälligen Erscheinungen der Erfahrungswelt aus. Die Berichtigung der Erfahrungsbegriffe geschieht durch die Methode der Beziehungen. Ein Ding hat mehrere Merkmale, indem es mehrere Beziehungen zu andern Dingen hat: ein Ding ist weiß, d. h. sein Verhältnis zu einem andern ist weiß, es ist süß, d. h. sein Verhältnis zu einem andern ist süß. So sind alle Eigenschaften nur Beziehungsbegriffe. Das einzige der Realen, das wir aus eigner Erfahrung kennen, ist die menschliche Seele, ein einfaches, unräumliches Wesen mit einfacher Qualität, deren Selbsterhaltungen die Vorstellungen sind. Diese machen die Basis aller weitern Entwickelung des psychischen Lebens aus; die angeblichen »Seelenvermögen« sind »mythologische Wesen«. Gefühle und Strebungen sind nur Zustände der Vorstellungen, nicht primitive Vorgänge; jene drücken eine »Klemme« des Vorstellens aus, diese das Aufstreben der Vorstellung gegen Hindernisse. Vorstellungen lassen sich als Kräfte betrachten; dadurch wird der Grund gelegt zu einer Statik und Mechanik des psychischen Lebens, welche die Anwendung der Mathematik auf Psychologie gestatten und dieselbe zum Rang einer exakten Wissenschaft erhebt. Wie durch die Wechselwirkung der Vorstellungen im Bewußtsein des Einzelnen zur Psychologie des Individuums, so wird durch ihre Wechselwirkung im gemeinsamen Bewußtsein mehrerer zur Psychologie der Gesellschaft der Grund gelegt, in deren weiterer Ausdehnung eine Psychologie der Menschheit als Betrachtung der Gesellschafts- und Menschheitsentwickelung nach psychologischen Naturgesetzen möglich wird. Unter den ästhetischen Begriffen, die Gefallen oder Mißfallen nach sich ziehen und die, wenn letzteres unbedingt sein soll, nur Begriffe von Formen (Verhältnissen) sein können, machen diejenigen, die sich auf das Wollen beziehen (ethische Begriffe), den Umfang der Ethik (praktische Philosophie), jene, die sich auf andre Objekte (Töne, Farben etc.) beziehen (ästhetische Begriffe im engern Sinne), den Umfang der Ästhetik im engern (gewöhnlichen) Sinn aus. Jene, die unbedingt wohlgefälligen[193] und mißfälligen Willensverhältnisse oder praktischen Ideen, stellen für das menschliche Wollen Musterbilder dar, deren Nachahmung nicht (etwa durch einen kategorischen Imperativ) geboten, aber durch den unausbleiblichen Selbsttadel, der jede Abweichung des eignen Wollens von ihnen trifft, dem Einzelnen fast unausweichlich gemacht wird. Sie zerfallen, je nachdem nur ein oder (höchstens) zwei oder unbestimmt viele wollende Wesen zu ihrer Realisierung erforderlich sind, in praktische Einzel- oder gesellschaftliche Ideen. Jene umfassen die Vollkommenheit, innere Freiheit, das Wohlwollen, Recht und Billigkeit, deren Gesamtheit das Musterbild der Tugend, diese die Rechtsgesellschaft, das Lohnsystem, Verwaltungssystem, Kultursystem und die beseelte Gesellschaft, deren Gesamtheit das Musterbild einer sittlich organisierten Gesellschaft darstellt. Über die Ästhetik im engern (gewöhnlichen) Sinne hat H. nur Andeutungen gegeben. Dagegen hat er die Pädagogik, im sorgfältigen Anschluß an seine Umgestaltung der Psychologie und Ethik, als ihrer Grundlagen, nicht nur theoretisch dargestellt, sondern auch praktisch (während seines Aufenthalts in Königsberg) durch Errichtung einer Übungsschule in Anwendung gebracht. Ihre Grundlage wird die Einteilung der gesamten Erziehung in Regierung, Unterricht, Zucht, von denen die erste mehr einen bloß abwehrenden, Unterricht und Zucht aber in ihrer untrennbaren Verschmelzung als erziehender (nicht bloß Kenntnisse beibringender, sondern charakterbildender) Unterricht einen positiv fördernden Charakter tragen. Für die Gültigkeit des Gottesbegriffs braucht H. das teleologische Argument: die Zweckmäßigkeit in der Natur kann nur durch Annahme einer höhern Intelligenz erklärt werden. Seine Metaphysik wendet aber H. nicht auf Gott an, da er fürchtet, sie würde sich ihm dabei entfremden.

Keine der nach Kant ausgetretenen Schulen hat an dessen Grundanschauung, der Trennung der theoretischen von der praktischen Philosophie, so streng festgehalten wie H. Im Gebiete der Geistesphilosophie hat H. die Kühle des Naturforschers bewahrt; von der Unerbittlichkeit der moralischen oder ästhetischen Forderung hat er sich durch die Rücksicht auf Wirklichkeit oder Möglichkeit (wie Kant) kein Tüttelchen abdingen lassen. Seine Metaphysik, die er selbst als qualitative Atomistik bezeichnet, versucht es, sich mit der atomistischen Basis der modernen Naturwissenschaft zu vertragen, wie seine Psychologie der bisher nur auf körperliche Vorgänge angewandten Mathematik ein neues Gebiet zu erobern trachtete, freilich ohne dauernden Erfolg. Auf pädagogischem Gebiet ist sein Prinzip des erziehenden Unterrichts in Deutschland und Österreich vielfach zum herrschenden geworden. Wenn H. trotzdem, mit seinen Zeitgenossen Fichte, Schelling, Hegel verglichen, weniger genannt worden ist, so trug daran z. T. sowohl seine vornehme, aller lauten Beteiligung an religiösen und politischen Tagesfragen abholde Persönlichkeit die Schuld, namentlich aber der exakte, streng nüchterne, jedem Schein und Prunk fremde Charakter seiner Forschung. Zu seiner Schule, die nach der Katastrophe der Hegelschen und der Rückkehr zur Erfahrung rasch an Ausbreitung gewann, und der sich durch Exner auch die österreichischen Hochschulen öffneten, gehören: Drobisch, Hartenstein, Strümpell, Griepenkerl, Sanio, Bobrik, J. H. und Theodor Waitz, Schilling, Reiche, Stoy, Allihn, Ziller, Tante, Thilo, Lott, Lazarus, Exner, R. Zimmermann, Volkmann, Bonitz, Nahlowsky, Vogt, Drbal, Lindner, Flügel, Fröhlich, Geyer u. a. Von Prag und Wien aus hat Herbarts Philosophie durch Dastich und Durdik bei den Tschechen, durch Straszewski bei den Polen, durch Paul und Alexander bei den Ungarn, durch Barzelotti u. a. bei den Italienern Eingang gefunden. Organ der Schule war die von Allihn und Ziller herausgegebene »Zeitschrift für exakte Philosophie« (Leipz. 1861–75, 11 Bde.; Bd. 12–20, hrsg. von O. Flügel, 1883–1893), fortgesetzt von Flügel und Rein als »Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik«.

Über Herbarts Leben vgl. Ziller, Herbartsche Reliquien (Leipz. 1871); Rob. Zimmermann, Ungedruckte Briefe von und an H. (Wien 1877); Walter Kinkel, J. F. H., sein Leben und seine Philosophie (Gießen 1902); über Herbarts Philosophie: Drobisch, Beiträge zur Orientierung über Herbarts System der Philosophie (Leipz. 1834) und Über die Fortbildung der Philosophie durch H. (das. 1876); Strümpell, Erläuterungen zu Herbarts Metaphysik (Götting. 1834); Thilo, Herbarts Verdienste um die Philosophie (Oldenburg 1875); Rob. Zimmermann, Perioden in Herbarts philosophischem Geistesgang (Wien 1876); Capesius, Die Metaphysik Herbarts (Leipz. 1878); Wiget, Pestalozzi und H. (das. 1891); Schöl, Herbarts philosophische Lehre von der Religion (Dresd. 1884); Közle, Die pädagogische Schule Herbarts und ihre Lehre gemeinfaßlich dargestellt (Gütersl. 1889), Regler, Herbarts Stellung zum Eudämonismus (das. 1901); O. Flügel, Die Bedeutung der Metaphysik Herbarts für die Gegenwart (Langensalza 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 192-194.
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