Schopenhauer

[7] Schopenhauer, 1) Johanna, Romanschriftstellerin, geb. 9. Juli 1766 in Danzig, gest. 16. April 1838 in Jena, Tochter des Senators Trosiener, wurde früh an den 20 Jahre ältern Bankier S. verheiratet und unternahm mit ihm mehrere Reisen durch einen großen Teil Europas. Nach dem Tode ihres Gemahls wandte sie sich 1806 nach Weimar, wo sich bald ein geselliger Kreis um sie bildete, in dem auch Goethe vielfach verkehrte. Durch Fernow (s. d.), dessen Leben sie beschrieb, wurde ihr Interesse auf kunstgeschichtliche Studien hingelenkt. Ihr Verhältnis zu ihrem berühmten Sohne gestaltete sich durch ihre eigne Schuld sehr unerfreulich und endigte mit einem vollständigen Bruch. Von 1832–37 lebte sie in Bonn, dann in Jena. Sie lieferte Reisebeschreibungen, Romane und Charakteristiken, die durch seine Beobachtung und anziehende Darstellung den Beifall der Lesewelt fanden. Ihre »Sämtlichen Schriften« erschienen in 24 Bänden (Leipz. u. Frankf. 1830–31), ihr literarischer Nachlaß u. d. T.: »Jugendleben und Wanderbilder« (Braunschw. 1839, 2 Bde.; neu hrsg. von Cosack, Danz. 1884). Vgl. Düntzer, Goethes erste Beziehungen zu Johanna S. (im 1. Bd. der »Abhandlungen zu Goethes Leben«, Leipz. 1885); Laura Frost, Johanna S. (Berl. 1905). – Ihre Tochter Adele S., geb. 2. Juni 1797 in Hamburg, gest. 25. Aug. 1849 in Bonn, erwies sich in »Haus-, Wald- und Feldmärchen« (Leipz. 1844) und in den Romanen »Anna« (das. 1845), »Eine dänische Geschichte« (Braunschw. 1848) als gewandte Erzählerin.

2) Artur, berühmter deutscher Philosoph, Sohn der vorigen, geb. 22. Febr. 1788 in Danzig, gest. 21. Sept. 1860 in Frankfurt a. M., bildete sich nach dem Willen des Vaters in Frankreich, England und Hamburg zunächst für den Kaufmannsstand aus, machte mit seinen Eltern längere Reisen, entschied sich aber nach dem Tode seines Vaters für die Gelehrtenlaufbahn, ließ sich in Göttingen, 21 Jahre al., als »Philosoph« immatrikulieren, studierte daselbst, in Berlin, wo Fichte ihn abstieß, und in Jena, ging nach Vollendung seines Hauptwerks: »Die Welt als Wille und Vorstellung« (Leipz. 1819), nach Italien, habilitierte sich dann an der Universität Berlin ohne Erfolg und zog sich, zum Teil wohl dadurch gegen die »Philosophieprofessoren« erbittert, seit 1831 nach Frankfurt a. M., das er für die gesündeste Stadt Deutschlands hielt, ins Privatleben zurück, wo er ausschließlich seiner philosophischen Schriftstellerei lebte. Hier wurde ihm 1895 ein Denkmal errichtet; sein Bildnis s. Tafel »Deutsche Philosophen II«. Seine Hauptschriften sind außer dem obengenannten Hauptwerk, das in der 2. Auflage (1844; 3. Aufl. 1859, weitere Auflagen besorgt von Frauenstädt) um einen zweiten »unentbehrlichen« Band vermehrt erschien; seine Promotionsschrift »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund« (Rudolst. 1813; 2. Aufl., Frankf. 1847; 5. Aufl. 1891), welche das Fundament seiner Logik, »Über den Willen in der Natur« (Frankf. 1836; 5. Aufl., Leipz. 1891), die seine Naturphilosophie enthält, und »Die beiden Grundprobleme der Ethik« (Frankf. 1841; 2. Aufl., Leipz. 1860; 4. Aufl. 1891), zwei Abhandlungen, deren eine über das Mitleid als Fundament der Ethik, die andre über seine der Kantschen sehr ähnliche Ansicht von der Willensfreiheit handelt; ferner »Über das Sehen und die Farben« (Frankf. 1816, 3. Aufl. 1870). Die größte Verbreitung haben seine u. d. T.: »Parerga und Paralipomena« (Berl. 1851; 7. Aufl. 1891, 2 Bde.) gesammelten kleinern geistreich-barocken Schriften gefunden, unter denen der Aufsatz gegen die »Philosophieprofessoren« durch seine maßlose Heftigkeit, der »Über das Geistersehen« durch die darin[7] sich offenbarende Neigung zur Mystik und die populären »Aphorismen zur Lebensweisheit« berühmt geworden sind. Die »Sämtlichen Werke« des sich selbst mit Stolz so bezeichnenden »Oligographen« sind von Frauenstädt nach Schopenhauers Tod in 6 Bänden (Leipz. 1873–74, 2. Aufl. 1877 und 1801) herausgegeben worden, freilich wenig sorgfältig, dagegen sehr gewissenhaft und genau von Grisebach (in Reclams Universal-Bibliothek, 6 Bde.). Außerdem sind in den letzen Jahren die sämtlichen Werke noch öfter herausgegeben worden. Grisebach hat noch veröffentlicht: »Edita und Inedita Schopenhaueriana« (Leipz. 1888), »A. Schopenhauers handschriftlicher Nachlaß« (in Reclams Universal-Bibliothek, 1891–93, 4 Bde.) und Schopenhauers »Gespräche und Selbstgespräche nach der Handschrift: εἰς ἑαντόυ« (Berl. 1897, 2. Aufl. 1901). Der »Briefwechsel zwischen S. und Joh. Aug. Becker« erschien Leipzig 1883, ferner gab Ludw. Scheman heraus: »Schopenhauer-Briefe« (das. 1893) und aus dem Nachlaß von Karl Bähr: »Gespräche und Briefwechsel mit A. S.« (das. 1894), und Grisebach 1895 Schopenhauers Briefe an Becker, Frauenstädt, v. Doß, Lindner und Asher (in Reclams Universal-Bibliothek, 2. Aufl., das. 1904.)

Schopenhauers Philosophie knüpft an Kants (s. d.) Vernunftkritik an und zwar zunächst, wie die Fichtes (s. d.), an deren idealistisches Element. S. erklärt nämlich, wie Kant, die in Raum und Zeit gegebenen Dinge für bloße Erscheinungen, den Raum und die Zeit, wie dieser, für subjektive, reine, apriorische Anschauungsformen, verwirft aber, wie Fichte, im Gegensatz zu Kant den realistischen Rückschluß von dem Vorhandensein der Erscheinung auf die Existenz eines hinter ihr vorhandenen und sie verursachenden, übrigens seiner Qualität nach unbekannt bleibenden Dinges an sich als Selbstwiderspruch, weil Kant den Schluß von der Wirkung auf die Ursache für eine dem urteilenden Subjekt als solchem anhaftende Urteilsform (ohne objektive Geltung) erklärt habe. Die vom vorstellenden Subjekt, dem Intellekt, auf Grund (subjektiver) räumlicher und zeitlicher Anschauungsform im Raum und in der Zeit angeschaute und auf Grund der (gleichfalls subjektiven) Kausalitätsform, die zu jeder Erscheinung eine (reale) Ursache hinzuzudenken nötigt, fälschlich als real vorgestellte Welt ist daher (wie bei Fichte) in Wahrheit bloße »Welt als Vorstellung«, Erscheinung ohne ein ihr zugrunde liegendes Ding an sich, Fiktion des Intellekts oder des (nach S.) mit diesem identischen Gehirns, leeres »Hirngespinst«. Geht aber S. (wie Fichte) in dieser idealistischen Richtung weit über Kant hinaus, so geht er doch anderseits in der realistischen Richtung weit hinter ihn zurück, indem er, allerdings auf anderm Weg als Kant, nicht nur, wie dieser, die Existenz eines »Dinges an sich«, eines Realen, ausdrücklich anerkennt, sondern, was Kant für unmöglich erklärte, dessen Qualität erkannt zu haben behauptet. Das Ding an sich wird, sowohl seiner Existenz als seiner Qualität nach, zwar nicht durch den Intellekt, aber doch und zwar »unmittelbar« als der durch innere Wahrnehmung in uns selbst deutlich erfaßte und unser eignes Wesen ausmachende »Wille« erkannt und daher die reale »Welt als Wille« von der imaginären »Welt als Vorstellung« unterschieden, indem unter »Wille« nicht nur das bewußte Begehren, sondern auch der unbewußte Trieb und die in der unorganischen Welt wirkende Kraft verstanden wird. Während die »Welt als Vorstellung« als »Gehirnphänomen« im und für den Intellekt, also nur im »Bewußtsein« ist, existiert die »Welt als Wille«, das »Ding an sich«, ursprünglich ohne Intelligenz und ohne Bewußtsein, als zugleich »dummer« und »blinder« rastloser »Wille zu leben«. Dumm ist er, weil, wie S. unabhängig von seinem philosophischen System aus der Erfahrung darzutun unternimmt, diese Welt, im Gegensatz zu Leibniz' »bester unter den möglichen«, die »schlechteste unter den möglichen Welten« ist; weil die Summe der durch das Leben aufgedrungenen Schmerzen weit beträchtlicher ist als die der Genüsse, die es darbieten kann. So stellt S., entsprechend seiner Gemütsanlage, dem Optimismus den entschiedensten Pessimismus gegenüber. Blind ist der Wille, weil das Licht der Intelligenz erst auf der höchsten und letzten Entwickelungsstufe des Willens im menschlichen Gehirn als Bewußtseinsträger entzündet wird. Mit dem Erwachen des Bewußtseins ist aber auch das Mittel gegeben, die »Dummheit« des Willens wieder gut zu machen. Indem der Intellekt zur Einsicht gelangt, daß der unerträgliche Zustand überwiegenden Leidens nur durch den unaufhörlichen Willen zu leben, durch das Begehren, welches Bedürfnis, also Mangel ist, hervorgebracht wird, gewahrt er zugleich, daß eine Heilung dieses Leidens (nach buddhistischem Vorbild) durch Lebensflucht, d. h. durch die Verneinung des Willens zu leben, erreicht werden kann. Die Durchführung der letztern, das »Quietiv des Willens«, das mit dem Übergang ins buddhistische Nirwâna, in die schmerzlose Stille des Nichtseins, verglichen werden kann, ist jedoch, wie S. ausdrücklich betont, keineswegs mit dem Selbstmord gleichbedeutend. Zwischen dem Willen und dem Einzelding stehen nach S. noch die Ideen, als die Stufen der Objektivation des Willens, unerreichte Stufenbilder für die Individuen, nicht räumlich und zeitlich, aber sich in zahllosen Einzeldingen abbildend. Zur Erkenntnis dieser Ideen können wir uns erheben, indem wir aufhören, die einzelnen Dinge im Raum und in der Zeit, im Kausalverhältnis zu betrachten, sie vielmehr als relations los anschauen, nicht durch Abstraktion, sondern durch Kontemplation. Tun wir das, so sind wir auch auf diese Momente von der Qual des Willens freie, schmerzlose und zeitlose Subjekte des Erkennens. Die Kunst hat es mit diesen Ideen, als dem Bleibenden in dem Wechsel der Erscheinungen zu tun.

Seinen (späten) Erfolg als Philosoph hat S. weniger seinem widerspruchsvollen System als seiner mit glänzender Beredsamkeit durchgeführten Verteidigung einer pessimistischen Weltansicht, seinem zur Schau getragenen Haß gegen die »Schulphilosophie« und seiner, besonders in den kleinern Schriften, von philosophischer Kunstsprache freien, geistreich-populären Darstellungsgabe zu verdanken, wodurch er (wie die von ihm sehr hoch gestellten englischen und französischen Popularphilosophen) vorzugsweise der Philosoph für die »Weltleute« geworden ist. Als solcher hat S. zwar viele dilettantische Anhänger, aber nur wenig systematische Fortbildner gefunden, also im wissenschaftlichen Sinne keine Schule gemacht, obgleich sein metaphysisches Prinzip des Willens viele Bekenner gefunden hat und in der neuern Philosophie eine Rolle spielt. Unter den Philosophen, die sich an ihn anlehnen, sind besonders E. v. Hartmann, Bahnsen, auch Nietzsche auf einer Stufe seiner Entwickelung zu nennen. Um die Verbreitung und Erläuterung seiner Werke hat sich vor allen ihr Herausgeber Jul. FrauenstädtBriefe über die Schopenhauersche Philosophie«, Leipz. 1854; »Neue Briefe«,[8] das. 1876; »Schopenhauer-Lexikon«, das. 1871, 2 Bde.; »Memorabilien« [bei Lindner, s. unten]; »Aus Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß«, das. 1864, und »Lichtstrahlen aus Schopenhauers Werken«, 7. Aufl., das. 1891), um seine Biographie E. O. Lindner (»S. Von ihm. Über ihn, Memorabilien etc.«, Berl. 1863) und GwinnerArthur S. aus persönlichem Umgang dargestellt«, Leipz. 1862; 2. Aufl. als »Schopenhauers Leben«, 1878) verdient gemacht. In Frankreich ist S. durch Foucher de CareilHegel et S.«, Par. 1862; deutsch, Wien 1888), RibotLa philosophie de S.«, 1874; 9. Aufl. 1903), Bossert (»S., l'homme et le philosophe«, 1903, 2. Aufl. 1905; deutsch, Dresd. 1904) und durch die Übersetzungen seiner Hauptschriften von Kantakuzenos, Reinach, Burdeau u. a., in England durch Helene ZimmernA. S., his life and his philosophy«, Lond. 1877) und durch die Übersetzung seines Hauptwerkes von Haldane und Kemp (das. 1883–86, 3 Bde.) eingeführt worden. Über seine Philosophie vergleiche man außer der noch lesenswerten Rezension Herbarts über die erste Auflage des Schopenhauerschen Hauptwerkes (im 12. Band seiner »Sämtlichen Werke«, S. 377 ff.): Haym, Arthur S. (Berl. 1864); O. Busch, Arthur S. (2. Aufl., Münch. 1878); R. Koeber, Die Philosophie A. Schopenhauers (Heidel v. 1888); K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 9 (2. Aufl., das. 1898); Grisebach, Schopenhauer (in Bettelheims »Geisteshelden«, Berl. 1897) und S., neue Beiträge zur Geschichte seines Lebens (mit S.-Bibliographie, das. 1905); Möbius, Über S. (Leipz. 1899); v. Brockdorff, Beiträge über das Verhältnis Schopenhauers zu Spinoza (Hildesh. 1900, 2 Bde.); Volkelt, Arthur S. (3. Aufl., Stuttg. 1907). Vgl. auch Laban, Die Schopenhauer-Literatur (Leipz. 1880) und Ueberweg-Heinzes »Grundriß der Geschichte der Philosophie«, Bd. 4 (10. Aufl., Berl. 1906); ein brauchbares »Schopenhauer-Register« erschien von Hertslet (Leipz. 1890).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 7-9.
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