Rousseau

[406] Rousseau (spr. Ruffoh), 1) Jean Baptiste, geb. 6. April 1670 in Paris; wurde 1688 Page bei dem französischen Gesandten Bonrepeaux in Dänemark, ging als Secretär des Marschalls Tallard nach England; arbeitete nach seiner Rückkehr nach Frankreich unter Rouillé im Finanzfache u. benutzte seine Musestunden, um sein poetisches Talent weiter auszubilden; er wurde aber, in Verdacht der Autorschaft mehrer Couplets gekommen, 1712 aus Frankreich verwiesen. In der Schweiz fand er an dem französischen Botschafter Grafen de Luc einen Gönner u. begleitete 1714 den Prinzen Eugen nach Wien, mußte jedoch Wien nach drei Jahren wieder[406] verlassen, weil er an einigen Versen des Grafen Bonneval auf eine der Maitressen des Prinzen Antheil gehabt haben sollte, u. ging nach Brüssel. Durch Verwendung des Großprior Vendôme u. des Grafen von Breteuil erhielt er vom Regenten ein Zurückberufungsschreiben; er aber verlangte eine nochmalige Durchsicht seiner Proceßacten u. Cassation seiner Verurtheilung, u. da ihm dies verweigert wurde, begab er sich 1721 nach London. Sein Vermögen verlor er bei der Handelscompagnie zu Ostende u. lebte nun von der Unterstützung einiger Freunde in Brüssel. Dorthin ging er, nachdem er sich drei Monate lang heimlich in Paris aufgehalten hatte, 1740 zurück; er st. 17. März 1741 zu Genette bei Brüssel u. wurde in der Kirche Notre Dame des Victoires in Brüssel begraben. Er schr.: Odes; Cantates; Epitres (in Versen); Allegories; Epigrammes; Poésies diverses; Comédies (4 in Versen, 2 in Prosa); Lettres; Oeuvres, Soloth. 1712, herausgeg. von Seguy Par. 1743, 3 Bde. 4., 6 Bde., u. von Amar-Durivier, Par. 1820, 5 Bde.; Eine Auswahl, London 1781, 2 Bde. 2) Jean Jacques, Sohn eines Uhrmachers in Genf, geb. daselbst 28. Juni 1712; wurde zuerst Schreiber bei einem Advocaten u. dann Lehrling bei einem Kupferstecher, welchen er aber wegen erfahrener Mißhandlungen verließ u. sich zu dem katholischen Pfarrer nach Consignon flüchtete; dieser empfahl ihn an Frau von Warens in Annecy, welche ihn aufnahm, aber nach Turin in ein Kloster schickte, wo er 1728 katholisch wurde. Nachdem er das Kloster verlassen hatte, trat er nach einander in Dienste bei einer alten Dame, von welcher er in Folge der angeblichen Entwendung eines seidenen Bandes kam, u. des Grafen von Gouvon; auch von diesem entlassen, kehrte er zur Warens zurück, welche ihn in einem Priesterseminar unterbrachte. Aber aller ernsten Beschäftigung abhold u. nur an der Beschäftigung mit der Musik Geschmack findend, verließ er das Seminar u. trieb sich erst in Lyon herum, dann lebte er 1731–33 als Musiklehrer in Lausanne u. Neuenburg, abenteuerte hierauf mit einem griechischen Mönch u. ging von Solothurn als Führer des jungen Herrn von Godard nach Paris; nach Kurzem aber verließ er diese Stelle wieder, u. nachdem er sich nochmals seit 1736 als Schreiber u. Musiklehrer versucht hatte, nahm ihn die Warens auf ihrem Landgute aux Charmettes auf, wo er aus ihrem Pflegsohn ihr Geliebter wurde, dabei Mathematik, Lateinisch u. Philosophie studirte u. sich in der Schriftstellerei u. Operncomposition versuchte. 1737 ging er zur Herstellung seiner Gesundheit nach Montpellier, u. da er während seiner Abwesenheit der Warens überflüssig geworden war, 1740 als Hauslehrer nach Lyon u. 1741 wieder nach Paris, wo er sich mit Schriftstellerei u. Composition zu beschäftigen fortfuhr. 1743 begleitete er, nachdem er seine Dissertation sur la musique moderne veröffentlicht u. eine Oper Les muses galantes componirt hatte, den französischen Gesandten Montaigu als Privatsecretär nach Venedig, kehrte aber nach 11/2 Jahren nach Paris zurück u. wurde Secretär bei dem Generalpächter Franceuil. Hier kam er in Verbindung mit den Encyklopädisten, namentlich mit Diderot, u. bearbeitete die Preisfrage der Akademie zu Dijon, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften u. Künste zur Verbesserung der Sitten beitragen habe. Die geistreiche Paradoxie, mit welcher er die Verneinung dieser Frage durchgeführt hatte, verschaffte ihm die Ertheilung des Preises; um seinem Wahlspruche : vitam impendere vero gemäß, sich ganz der Schriftstellerei widmen zu können, verließ er sein Amt als Kassirer, welches ihm Franceuil übertragen hatte, u. nährte sich vom Notencopiren. Schon seine erste Schrift hatte ihm viele Gegner erweckt, noch mehr geschah dieß 1753 durch den Discours sur l'origine et les fondemens du l'inégalité par les hommes, worin er die sociale Ungleichheit unter den Menschen als eine blos willkürliche u. unrechtmäßige u. als eine Wurzel aller Übel darstellte, u. dadurch mit seinen Freunden zerfiel; sodann durch seine Lettre sur la musique française, welche die französische Musik tadelte u. dadurch eine so ungünstige Stimmung gegen ihn erregte, daß er 1754 Paris verließ u. nach Genf zurückkehrte, wo er zur Reformirten Kirche zurücktrat u. sich Citoyen de Genève nannte. Doch konnte ihn seine Vaterstadt nicht lange fesseln, er kehrte 1756 nach Frankreich zurück u. lebte auf dem Lande bei Paris erst bei Madame d'Epinay in einem Gartenhaus am Walde von Montmorency, der Eremitage, seit 1758 in einem andern Gartenhaus bei Montmorency. Hier schrieb er seit 1757 seinen Roman Nouvelle Héloise (1760), worin er die Herrlichkeit der Natur u. des Naturlebens gegenüber den Sitten, Moden u. Einrichtungen der großen Welt schilderte u. gegenüber dem Atheismus u. religiösen Materialismus sich zur deïstisch-moralischen Religion bekannte; dann Contrât social u. Émile, beide 1762, in ersterem sucht er der falschen Staatsform die wahre, in letzterem der verkehrten Art der Erziehung die rechte entgegenzusetzen. Der Emil wurde vom Parlament als ein schädliches Buch verurtheilt u. gegen den Verfasser ein Verhaftbefehl erlassen; dieser aber floh nach der Schweiz, wo er sich seit 1762 im Canton Neuenburg zu Motiers-Travers mit Schriftstellerei u. Botanik beschäftigt aufhielt u. vom König Friedrich II. von Preußen u. vom Lord Keith Beweise der Achtung empfing. In Folge eines Mißverständnisses mit den dortigen Bauern verließ er 1765 Motiers, wohnte kurze Zeit auf der Petersinsel im Bielersee, welche nach ihm die Rousseau-Insel genannt wurde, u. in Strasburg, worauf er, von Hume eingeladen, nach England ging. Er lebte dort auf einem Landhause ganz zurückgezogen, u. nachdem er sich mit Hume veruneinigt hatte, kehrte er 1767 nach Frankreich zurück, lebte unter dem Namen Renou auf dem Schlosse Trye, einer Besitzung des Prinzen Conti, u. seit 1770 wieder in Paris (wo er in der Rue Platrière wohnte, welche nachher seinen Namen erhielt), beendigte hier seine Confessions u. nährte sich wieder von Notenschreiben. Krank an Leib u. Seele bezog er zuletzt auf Einladung des Marquis von Girardin eine Wohnung in Ermenonville, wo er 3. Juni 1778, wie Einige behaupten, durch Selbstmord, starb; am 11. October 1794 wurde seine Leiche nach Paris in das Pantheon versetzt, später aber nach Ermenonville zurückgebracht. 1834 wurde auf der Rousseau-Insel seine bronzene Statue aufgestellt. Verheirathet war R. nicht, sondern lebte seit 1745 mit Therese Levasseur, einem rohen u. beschränkten Mädchen aus einem Schenkhause in Orleans, durch deren Klätschereien er mit mehren seiner Wohlthäterinnen in Differenzen kam u. mit welcher er in seinen letzten Lebensjahren noch[407] zerfiel; die mit ihr erzeugten in der übergab er dem Findelhause, was er später aufrichtig bereute. Als Schriftsteller ist R. eine der bedeutendsten Größen des 18. Jahrh. u. wird von den Franzosen mit Recht zu ihren ersten Classikern gerechnet. Er verdankte dies nicht nur der Schönheit seiner Darstellung, sondern vor Allem der Art, wie er in die geistige Bewegung seines Zeitalters eingriff u. den Tendenzen desselben theils einen kräftigen Ausdruck, theils eine Richtung gab. Einer zum Theil ins Frazzenhafte verzerrten Civilisation u. einem Staatswesen gegenüber, welchem fast alle tieferen sittlichen Haltepunkte abhanden gekommen waren, stellte er die Rückkehr zur Natur als ein Ideal auf, von welchem die Cultur den Einzelnen u. die Gesellschaft immer weiter entfernt habe. Seine Ansichten über die Erziehung, durch welche er trotz ihrer Einseitigkeit den wohlthätigsten Einfluß ausübte u. deren Folge zunächst in Deutschland der Philanthropismus Basedows war, beherrschte der an sich nur negative Grundgedanke, daß die Erziehung Alles zu vermeiden habe, was die naturgemäße Entwickelung des Kindes stören würde. Eben so suchte er auf dem Gebiete der Politik im Contrat social das Problem einer Staatsverfassung zu lösen, welche die natürliche Gleichheit u. Freiheit aller Einzelnen unversehrt mit der im Staate unvermeidlichen Unterordnung u. Beschränkung der subjectiven Willkür zu vereinigen im Stande sei. Er glaubte sie in einer republikanischen Verfassung zu finden, in welcher alle Einzelnen die gleichen Rechte als Staatsbürger (Citoyen im Gegensatze zu Bourgeois) genießen, der allgemeine Wille (Volonté générale) die einzige Quelle des Gesetzes, die ausübende Gewalt von der gesetzgebenden streng geschieden u. die Träger der ersteren schlechthin an das Gesetz gebunden sind. Unter allen seinen Schriften hat der Contrat social vielleicht die tiefstgreifenden Wirkungen gehabt; er hat der in dem damaligen Frankreich durch eine Menge anderer Ursachen hervorgerufenen Opposition gegen die factisch bestehende Staatsform die Kraft eines bewußten Princips gegeben u. in den ersten Zeiten der Französischen Revolution wurden seine Grundsätze der Leitfaden der Gesetzgebung. Die atheistische u. materialistische Richtung der französischen Encyklopädisten theilte R. nicht, vertheidigte vielmehr den Deismus u. den Werth des Christenthums in den Lettres écrites de la montagne u.a. Schriften mit großer Beredtsamkeit. Hauptschriften: La nouvelle Héloise, ou Lettres de deux amans, Amsterd. 1761, 6 Bde., Par. 1799 (deutsch von C. F. Cramer, Berl. 1785, von la Pique, Manh. 1800, 4 Bde., u. A.); Contrat social, Amsterd. 1762 (deutsch von Schramm, Düsseld. 1800); Emile ou De l'éducation, Amsterd. 1762, 4 Bde., Par. 1794, 6 Bde. (deutsch von C. F. Cramer, Braunschw. 1789, 4 Bde., u. v. A.); Confessions (Selbstbekenntnisse), Genf 1781–90, 4 Bde., ebd. 1789, 2 Bde. (deutsch von Knigge, Berl. 1786 ff., 4 Bde.). Außerdem schr. er: Dissertation sur la musique moderne, Par. 1743; Lettres écrites de la montagne, Amsterd. 1760; J. J. R. à Ch. de Beaumont (an den Erzbischof von Paris zur Vertheidigung des Emil), 1763; Profession de foi du vicaire Savoyard; Lettres sur la législatión des Corses; Considérations sur le gouvernement de Pologne, Par. 1772; Dictionnaire de musique, 1767; Lettres sur la botanique, etc.; Oeuvres, Genf 1782 ff., 17 Bde. in 4, od. 35 Bde. 8., Par. 1791, 32 Bde., ebd. 1795, 45 Bde., ebd. 1802, von Musset-Pathay Par. 1818–20, 22 Bde., 1823–26, 23 Bde., von Petitain, 1819 f., 22 Bde., von Auguis 1824–28, 27 Bde. (deutsch von C. F. Cramer, Berl. 1785–94, 11 Bde.); Auserlesene Werke, von Fr. Gleich, Th. Hell u. A., Lpz. 1826–30, 20 Bdchn., u.A. 1830. Oeuvres inédites gab Musset-Pathay, Par. 1923, 2 Bde., heraus; Lettres originales, Genf 1798 (deutsch Königsb. 1799); Correspond. originale et inédite, Par. 1803 (deutsch von Stampeel, Lpz. 1808, 3 Bde.); Lettres inédits de J. J. R. a Marc Michel, herausgegeben von J. Bosscha, Par. 1858; vgl. Frau von Staël, Lettres sur les ouvrages et le charactère de J. J. R., Par. 1789 (deutsch Lpz. 1799); Guingene, Lettres sur les confessions de J. J. R., Par. 1790; Girtanner, Fragmente über R-s Leben, Charakter u. Schriften, Wien 1782; Lobrede auf J. J. R. von K. G. Schelle, Lpz. 1799; Girardin, Sur la mort de J. J. R., Par. 1924; Musset-Pathay, Histoire de la vie et des ouvrages de J. J. R., Paris 1821, 2 Bde.; I. B. Meyer, R. u. Voltaire in ihrer socialen Beziehung dargestellt, Berl. 1856. 3) Samuel, Buchdrucker; stand in London bei Nichols, dem Herausgeber des Gentlemans Magazine, in der Lehre; lernte Latein, Griechisch, Hebräisch, Syrisch, Persisch u. Arabisch, später auch Französisch u. mehre neuere Sprachen, war einige Zeit Lehrer an einer Schule, legte dann eine Buchdruckerei an, mußte dieselbe aber wieder aufgeben u. lebte dann meist von dem Unterrichte in der Persischen Sprache; er st. 1820 u. schr.: Flowers of Pers. liter.; Dictionnary of Mohammedan law; Bengal revenue terms, Sanscrit, Hindoo and other Works used in the East Indies, Lond. 1802; Persisch-englisches Vocabularium, ebd. 1802; Persische Grammatik, ebd. 1805; Annalen der Gesundheit u. eines langen Lebens, ebd. 1818, u.a. 4) Johann Baptist, geb. 31. Dec. 1802 in Bonn, wohin sein Großvater, ein Franzose, als Hofmaler berufen worden war, studirte dort Philosophie, Philologie u. Geschichte; lebte dann in Aachen, Hamm u. seit 1828 in Frankfurt a. M., wo er 1831 die Frankfurter Oberpostamtszeitung herausgab; 1833 redigirte er die Münchener politische Zeitung, ging dann nach Wien, wo er ästhetische Vorlesungen hielt, u. 1841 nach Berlin, wo er seit 1843 die Feuilletons der Neuen Allgemeinen preußischen Zeitung redigirte. Er schr.: Gedichte, Kres. 1823; Poesien für Lieb u. Freundschaft, Hamm 1823 Westphälischer Musenalmanach, ebd. 1823 f., 2 Jahrg.; Lieder vom Kölner Dom, Köln 1823; Michel Angelo, Aachen 1823; Spiele der lyrischen u. dramatischen Muse, Frankf. a. M. 1829; Goethes Ehrentempel, ebd. 1827 ff., 2 Bde.; Bernsteine (Gedichte u. Novellen), ebd. 1831; Kunststudien, ebd. 1834; Dramaturgische Parallelen, ebd. 1834; Legenden, Münster 1835; Marienbüchlein (Gesänge zu Ehren der heil. Jungfrau), Frankf, 1836; Purpurviolen der Heiligen, ebd. 1835 f., 6 Bde.; Poetische Reisetabletten aus Italien etc., ebd. 1836; Die Rose von Mantua, Aachen 1837; Madonna in Liedern, Legenden u. Sagen, Berl. 1843; Auserlesene Sammlung rheinischer Volkssagen, Coblenz 1846; Muttergottesrosen, Wien 1848; u. übersetzte Romane u. Novellen aus dem Französischen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 14. Altenburg 1862, S. 406-408.
Lizenz:
Faksimiles:
406 | 407 | 408
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Nachkommenschaften

Nachkommenschaften

Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon