Erfurt [1]

[843] Erfurt, 1) Regierungsbezirk der preußischen Provinz Sachsen; gebildet aus Erfurt, Theilen des ehemaligen thüringer u. neustädter Kreises Sachsens, dem preußischen Hohenstein u. Eichsfelde, Nordhausen, Mühlhausen, Treffurt, Voigtei Dorla, 2 Dörfern Hannovers u. den eingetauschten schwarzburgischen Ortschaften; grenzt (ohne die davon getrennten Parzellen) an Braunschweig, den Regierungsbezirk Merseburg, Schwarzburg-Sondershausen, Weimar, Gotha, Kurhessen u. Hannover; Boden wellenförmig, eben u. hügelig, nordwestlich (von den Vorbergen des Harzes) u. südlich (von dem Thüringer Walde) bergig; Flüsse: Saale, Gera, Unstrut, Wipper, Helbe, Helme, Leine u. Werra; 613/4 QM. u. 346,000 Ew. (246,270 Evangelische, 98,350 Kath.); 9 Kreise: Erfurt, Ziegenrück, Schleusingen, Nordhausen, Worbis, Heiligenstadt, Mühlhausen, Langensalza u. Weißensee. 2) Kreis daselbst; 53/4 QM., 48,000 Ew. 3) Hauptstadt der beiden vorigen, an der Gera, ist eine starke Festung zweiter Klasse, namentlich durch seine zwei selbständigen Werke, der älteren, mit der Stadt unmittelbar verbundenen Citadelle auf dem Petersberg u. der nach neueren Principien erbauten Cyriaksburg. Die Stadtbefestigung bildet ein Wall mit Mauer, vorspringenden viereckigen Thürmen mit davorliegenden größtentheils nassen Gräben, hat 2 Bastions nahe dem Petersberg am Brühler u. Andreasthor, außerdem im Osten die hohe Batterie; in neuester Zeit durch Anlage zweier größerer detachirter Werke mit Reduits, der Daberstädter Schanze im Süden, einer größeren Lünette im Osten, einer kleineren, der Auenschanze, im Norden, demnächst durch Ordnung des Glacis, des gedeckten Weges, der zur Thorvertheidigung nöthigen Werke u. namentlich durch Benutzung des Wassers zu vortheilhaftem Schleußenspiel bedeutend verstärkt. Der Petersberg liegt dicht an der Stadt auf einer Anhöhe; ist unregelmäßig nach der Stadt zu mit tenaillirten Werken, nach dem Felde zu mit 4 Bastions befestigt u. hat mehrere Ravelins u. Lünetten, eine neue, sehr große Defensionskaserne gegen Norden u. 1 Hornwerk; die Cyriaksburg (sonst Kloster) liegt ganz von der Stadt getrennt, auf einer die vorigen überhöhenden Anhöhe, ist ein Viereck mit Thürmen an den zwei äußern Ecken, mit Defensionskaserne, Ravelins u. bedecktem Weg, in welchem sich steinerne Caponieren befinden. Man zählt 202 Straßen u. Gassen; von den zum Theil mit steinernen Trottoirs versehenen, bei Nacht durch Gas erleuchteten größeren Straßen sind der Anger, sehr breit u. ziemlich lang, u. die Johannisstraße zu erwähnen, von Plätzen der Friedrich-Wilhelmsplatz (sonst vor den Graden) an dem Petersberg u. Dom, mit Denkmal des letzten Kurfürsten von Mainz, Karl Friedrich Joseph, in Form eines Obelisken; außerdem der Fischmarkt mit Rolandssäule etc. E. hat 6 Thore, 1 Pforte u. 1 Durchgang durch den Petersberg, welcher für das Publicum geschlossen ist. Der innere Raum von E. ist nicht ganz bebaut, ein großer Theil gegen SW., am Brühler Thor u. Pförtchen (Hirschbrühl) sind Gärten. E. hat 9 protestantische Kirchen, einen Betsaal im Arbeitshaus, einen Betsaal im Martinsstift, eine Kirche der altlutherischen Gemeinde, 8 katholische Kirchen, zwei Kapellen u. eine Synagoge. Von den katholischen Kirchen sind merkwürdig: der Dom, zu dem man vom Friedrich-Wilhelmsplatz aus auf einer breiten Freitreppe hinaufsteigt; in ihm das Grabmal des Grafen Ernst von Gleichen mit seinen 2 Frauen (sonst in der 1813 abgebrannten Benedictinerkirche auf dem Petersberg) u. auf dem Thurme die 1497 gegossene, 1/4 Elle dicke, 275 Ctnr. schwere Glocke Maria gloriosa, eine der größten in Deutschland, die im J. 1251 bei dem Brande geschmolzene hieß Susanna u. nach ihr heißt die jetzige im Munde des Volks auch Susanna. Dicht neben dem Dom steht die Kirche zum St. Severus. Von den protestantischen Kirchen sind die neu hergestellte Barfüßerkirche, die Predigerkirche, die Augustinerkirche, welche, nachdem in ihren Räumen 1850 das Erfurter Parlament sich versammelte, neu u. geschmackvoll restaurirt ist, merkwürdig. Die sonst zahlreichen Klöster sind aufgehoben, bis auf das Kloster der Ursulinerinnen, in welchem auch eine von den Nonnen geleitete Erziehungsanstalt sich befindet. Die Räume des ehemaligen Augustinerklosters, in welchem noch Luthers Zelle gezeigt wird, dienen einstweilen dem Martinsstifte für verwahrloste Kinder u. dem evangelischen Waisenhause, welches verschiedene Sammlungen, wie einen sehenswerthen Todtentanz, bewahrt. E. ist Sitz einer Regierung (in der sonstigen Statthalterei), der Generalinspection des Thüringischen Zollverbandes, eines Kreisgerichts, der Direction der Thüringischen Eisenbahn, Landraths, Magistrats, Steueramts etc. Wissenschaftliche u. Erziehungsanstalten: E. war sonst Sitz einer 1378 gestifteten, 1816 aufgehobenen Universität (s. unt.); noch besteht die königliche Akademie gemeinnütziger Wissenschaften, am 19. Juli 1754 gestiftet, unter dem Präsidium des Prinzen Adalbert von Preußen, hat eine Bibliothek von 50,000 Bänden (sonst Universitäts- od. Boyneburgsche Bibliothek, da sie nach ihrer früheren Zerstörung von dem Statthalter von Boyneburg mit der großen Bibliothek seines Vaters beschenkt worden ist; später erhielt sie bedeutenden Zuwachs durch einen Theil der Bibliothek des Coadjutors von Dalberg, der Büchersammlungen der aufgehobenen Klöster u. der Bibliothek des Collegium Amplonianum [s.u.[843] Amplonius]); eine Kunst- u. Naturaliensammlung, außerdem ein gemischtes (katholisches u. protestantisches) Gymnasium, Schullehrerseminar mit Seminarschule, Taubstummenanstalt, Blindenheilanstalt, Kunst- u. Bau-, Handwerks-, Real-, Handlungs-, Zeichenschule, Hebammeninstitut, Entbindungsanstalt, Gärtnerlehrlingsanstalt, Mädchenoberschule, Stadtschulen, Handelskammer, Filial der preußischen Bank, Gewerbverein, Gartenbauvereine, 2 Musikvereine, Thüringische Bibelgesellschaft, der Thüringische Kunstverein, ein Verschönerungsverein, Missionsverein, Vereine zur Unterstützung armer Handwerker, zwei patriotische Vereine, Sparverein für Beschaffung von Holz, zwei Frauenvereine, Verein für verwahrloste Kinder; die Stiftung Nationaldank hat hier ein Commissariat, in welchem mehrfache wohlthätige Stiftungen begründet sind. Öffentliche u. milde Anstalten: Arbeitshaus, Hospital, 2 Krankenhäuser, 2 Waisenhäuser, ferner das Martinsstift (s. ob.), Institut für Augenkranke, zwei Rettungshäuser (evangelisches u. katholisches). Hauptnahrungszweige sind Ökonomie (mehr als 150 Ökonomen) u. Gartenbau (mehr als 80 Gärtner), durch welchen außer Handels- u. Arzneikräuter aller Art, namentlich die Brunnenkresse (in den Gartenklingen an dem Treuen Brunnen u. der Milchinsel) u. der Blumenkohl in schöner u. reicher Fülle gezogen u. weithin versandt wird; ferner Kunst- u. Handelsgärtnerei (mehr als 20 Handelsgärtner), Sämereihandel, Mühlenfabrikate, Schuh- (364 selbständige Meister), Strumpf- (27), Tabaks-, Leder-, Essig-, Garn- (16) Fabriken. Es befinden sich in E. 7 Bierbrauereien, 11 Buchdruckereien, 10 Buchhandlungen u. 9 Steindruckereien. In E. hat die Versicherungsgesellschaft Thuringia u. die Erfurter Hagelschädenversicherungsgesellschaft ihren Sitz. Durch den Verkehr der Thüringischen Eisenbahn, deren Mittelpunkt E. ist, ist der Waarenumsatz sehr gehoben, 1857 1,304,246 Centner. Es erscheinen hier die Erfurter Zeitung, zwei Adreßblätter, ein Regierungsamtsblatt, eine Gartenzeitung. Für die Vergnügungen sorgt ein Theater (im Sommer ein Tivoli), das Casino, die Ressource u. viele andere gesellschaftlichen Vereine. Spaziergänge bieten namentlich der anmuthig gelegene Steiger (Rhoda, Waldschlößchen) im SW. der Stadt mit Promenadenwegen (Hedemannsweg) u. die nahe gelegenen Dörfer Harsgehofen, Gispersleben, Hochheim, Stedten u.a. Freimaurerloge: Karl zu den drei Adlern. 33,800 Einwohner, von denen 5300 auf die Garnison kommen u. ein Drittel katholisch, 204 Israeliten sind. – E. soll der Sage nach von einem gewissen Erpes gegründet u. darnach Erpesford genannt worden sein, wahrscheinlicher aber wurde es zur Zeit des Bonifacius, welcher hier um 741 ein Bisthum gründete, welches aber bald wieder aufgehoben wurde, angelegt, 805 von Karl d. Gr. zum Handelsplatz mit den Sorben bestimmt, u. wurde im Mittelalter, bes. vor Einführung des Indigos, Mittelpunkt des thüringischen Waidhandels u. zugleich Stapelplatz des Saflors u. Anis zwischen Ober- u. Niederdeutschland. 1080 wurde E. von Heinrich IV. geplündert u. in Brand gesteckt, von Lothar von Sachsen 1118 eingenommen u. 1203 Philipp von Schwaben, dessen Partei es genommen, belagert. E. gehörte zu dem Kirchsprengel u. der weltlichen Gerichtsbarkeit von Mainz, unter der Oberhoheit der Landgrafen von Thüringen. Oft aber gehorchte die Stadt den Erzbischöfen nicht, u. diese belegten sie dann mit Bann u. Interdict, so 1224, 1234, 1244, 1277 u. 1279. Erzbischof Gerhard I. gestand E. 1255 eine besondere Stadtobrigkeit (3 Rathsmeister u. 12 Beisitzer) zu. Viele Fehden führte E., so mit Friedrich dem Gebissenen, der von E. die Grafschaft an der Schmalen Gera, die sein Vater Albrecht der Unartige 1979 wiederkäuflich an die Stadt verkauft hatte, zurückforderte, von 1309–16, wo E., zugleich von innerlichen Unruhen bedrängt, den Frieden für 10,090 Mark Silber erkaufte. Hier 1289 großer Reichstag, von Rudolf von Habsburg angeordnet, wodurch dem Faustrecht in Thüringen gesteuert wurde. Für ein jährliches Schutzgeld begab sich E. 1483 in die Schutzgerechtigkeit des Hauses Sachsen, welchen Vertrag es, bei innern Unruhen von Mainz verlassen, 1516 erneuerte. Luther studirte von 1501 daselbst, auch war er dort Augustinermönch. 1524 nahm E. die Reformation an. Unruhen brachen deshalb aus, aber ein Vergleich mit Kurmainz stillte sie. Viel litt E. im Dreißigjährigen Kriege u. öffnete 1631 den Schweden die Thore. Der Petersberg wurde von den Schweden besetzt gehalten, während Baner daselbst 1640 lange sein Hauptquartier hatte. Im Westfälischen Frieden wurde die Oberhoheit des Erzstiftes über E. anerkannt, aber Kursachsen weigerte sich, seiner Schutzgerechtigkeit zu entsagen, u. erst 1664 wurde E. mir Hülfe von Reichstruppen durch Capitulation von Mainz genommen u. Johann Georg II., Kurfürst von Sachsen, u. das Ernestinische Haus traten 1665 das Hoheits- u. Schutzrecht an Mainz ab. Im Siebenjährigen Kriege wurde es durch den preußischen General von Knoblauch 1759 eingenommen. 1802 den 21. August wurde E. nebst dem E-er Gebiet (mit der Stadt E. 2 Städte, 3 Flecken, 72 Dörfer u. 46,000 Ew.) von Preußen in Besitz genommen. 1806 capitulirte E. gleich nach der Schlacht bei Jena, den 16. Oct., kam unter französische Administration u. wurde durch den Tilsiter Frieden von Preußen an Napoleon überlassen, der jedoch nicht darüber verfügte. Vom 27. Sept. bis 14. Oct. 1808 hielt Napoleon hier den Erfurter Congreß, bei dem der Kaiser Alexander, die Könige von Baiern, Westfalen, Württemberg, Sachsen u.a. Fürsten zugegen waren. E. litt 1813 eine harte Belagerung, wurde im Novbr. von den Preußen mit österreichischem Geschütz beschossen u. dabei 188 Häuser zerstört. Im Dec. capitulirte die Stadt, die Franzosen zogen sich in die Citadellen u. räumten diese, nachdem Kleist von Nollendorf die Stadt am 6. Jan. 1814 besetzt hatte. Am 26. Jan. trat Preußen von dem Erfurter Gebiete die Ämter Vippach, Atzmannsdorf u. Tonndorf nebst 4 Dörfern an Weimar ab. E. wurde 1815 Sitz einer Regierung. In Folge der Renitenz der Landwehr am 24. Nov. 1848 wurde über E. der Belagerungszustand verhängt, welcher am 4. Aug. 1849 aufgehoben wurde. Im Jahr 1850 im März u. April tagte hier das Unionsparlament (Erfurter Parlament) in der Augustinerkirche. Die Erlaubniß, eine Universität anlegen zu dürfen, wurde der Stadt E. durch Papst Clemens VII. 1378 ertheilt, doch hielt es der Rath für nöthig, 1389 vom Papst Urban VI. eine neue Erlaubniß einzuholen. Benedict IX. ließ sie 1392 feierlichst einweihen. Sie war die vierte der[844] deutschen Universitäten u. Anfangs sehr besucht. 1472 wurde ein Theil ihrer Gebäude durch einen Mönch Burkhard abgebrannt u. 1510 artete eine Schlägerei der Studenten mit der Besatzung in ein völliges Gefecht aus, die Soldaten u. das Volk pflanzten Kanonen vor dem Collegium, wohin sich die Studenten retirirten, auf, stürmten es u. demolirten es gänzlich. Seitdem ist die Universität nie wieder zu ihrer Blüthe gekommen; sie hob sich zwar in der Mitte des 18. Jahrh. etwas, aber durch Abberufung ihrer besten Lehrer u. durch den Krieg sank sie sehr; 1816 wurde sie aufgehoben u. ihr Vermögen zu andern Unterrichtsanstalten geschlagen. Vergl. Falkenstein, Civitatis Erfurtensis historia, Erf. 1739–1746, 2 Bde.; I. Dominikus, E. u. das E-er Gebiet, Gotha 1793, 2 Bde.; (Rössig), Geschichte u. Statistik der Stadt E., ebd. 1794; Arnold, E. u. seine Merkwürdigkeiten u. Alterthümer, ebd. 1802; J. F. Müller, Alte Geschichte von E., ebd. 1820; C. Beyer, Neue Chronik von E., ebd. 1822; Erhard, E. u. seine Umgebungen, ebd. 1830; Noback, Beschreibung des Regierungsbezirkes E., ebd. 1841; Thüringisch-Erfurter Gedenkbuch, ebd. 1840; Horn, Charakterisirung der Stadt E., ebd. 1843; Cassel, Erfurter Erinnerungsalbum an den 21. u. 22. Aug. 1852, ebd. 1852; Michelsen, Die Rathsverfassung von E. im Mittelalter, Jena 1855; Kampschulte, Die Universität E., Trier 1858; Cassel, Geschichte der Akademie, in der Denkschrift der königlichen Akademie der Wissenschaften, ebd. 1854.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 843-845.
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