Lateinische Literatur des Mittelalters

[215] Lateinische Literatur des Mittelalters. Den Untergang der Herrschaft des römischen Volkes überlebt um etwa ein Jahrtausend die Herrschaft der lateinischen Sprache. In ihr waren ausgezeichnet die auch von den Barbaren anerkannten Rechtssammlungen und wiedergegeben die erst durch diese Übertragung allgemeiner verbreiteten Urkunden des Christentums. An ihr Verständnis war gebunden, wer an die alte, auch im Verscheiden noch imponierende Kultur anknüpfen wollte, an ihren Gebrauch, wer universale Tendenzen verfolgte, wie die katholische Kirche. Anfangs das Organ überhaupt jeder literarischen Äußerung und nationale Literaturen innerhalb der Grenzen des ehemaligen Reiches und der christlichen Mission erst weckend, wird das Lateinische als Literatursprache des christlichen Abendlandes im Mittelalter von den erwachten Literaturen nur allmählich zurückgedrängt und schließlich beschränkt auf den Gebrauch in Kirche und Wissenschaft, die ihren universalen Charakter behaupten. Von der Sprache der Römer unterscheidet sich das Latein des Mittelalters in Lautlehre und Flexion nur etwa bis zum 9. Jahrh., solange die Entwickelung der Volkssprachen vielfach zur Unsicherheit im schriftlateinischen Ausdruck führt, und später, wenn ungebildete Romanen zur Feder greifen; in Syntax und Stilistik fast jederzeit und allerorten unter dem Zwang der Reimprosa und der von der Rhetorik genau geregelten Satzschlüsse; im Wortschatz hier und da durch Latinisierung von Fremdwörtern. Ganz abseits von jeder natürlichen Entwickelung steht der mit griechischen, hebräischen und selbstgeschaffenen Wörtern untermischte Ausdruck in einigen Literaturwerken Südwestbritanniens aus dem 6. und 7. Jahrh. (vgl. Zimmer, Nennius vindicatus, Berl. 1893). Doch gelten Fremdwörter und aus Glossarien erborgte Archaismen auch später noch als stilistischer Schmuck (vgl. Goetz, Dunkel- und Geheimsprachen, Leipz. 1896). Im allgemeinen geht das Streben dahin, sich an die in Kloster und Schule gelesenen, immer wieder abgeschriebenen und dadurch für uns erhaltenen römischen Schriftsteller eng anzulehnen. Da noch kein falscher Klassizismus die Nachahmung auf bestimmte Vorbilder beschränkte, so erhöht sich fortwährend die Ausdrucksfähigkeit und entsteht mit der Zeit eine souveräne Herrschaft über ein ausgedehntes Sprachmaterial, bis der Humanismus engere Grenzen zog, das Stilgefühl steigerte, aber die Handlichkeit der lateinischen Sprache selbst für allgemeinern gelehrten Verkehr beseitigte. Ein eigentümliches Gepräge erhält[215] vielfach die Prosa durch die Einführung des Reimes und der metrischen oder rhythmischen Kadenz, welche die einzelnen Teile des Satzes gliedern und ebenso geeignet sind, eine gewisse Eindringlichkeit, z. B. in Gesetz und Predigt, zu unterstützen, als ein leeres Wortgeklingel auch auf die ungebundene Rede zu übertragen. Die Poesie bewahrt den von den Römern ausgebildeten Versbau; neben den quantitierenden (metrum) tritt überall auch der akzentuierende (rhythmus) mit der notwendigen Begleiterscheinung des Reimes. Akzentuierende Versarten, in denen das Mittelalter seine schönsten und originellsten Töne anschlägt, überwiegen im Kirchenlied und bei der Behandlung mehr volkstümlicher Stoffe. Der Reim wird seit dem 9. Jahrh. häufiger auch auf die quantitierende Poesie übertragen.

Vgl. im allgemeinen: Docen, Über die Ursachen der Fortdauer der lateinischen Sprache (Münch. 1815); Bury, The life of St. Patrik (Lond. 1905). Über Grammatik: Bonnet, Le latin de Grégoire de Tours (Par. 1890); Ronca, Cultura medioevale (Rom 1892); Seiler, Ruodlieb (Halle 1882); Voigt, Ysengrimus (das. 1884). Über grammatische Lehren des Mittelalters: Eckstein, Lateinischer und griechischer Unterricht (Leipz. 1887); Baebler, Beiträge zu einer Geschichte der lateinischen Grammatik im Mittelalter (Halle 1885); Reichling, Das Doktrinale des Alexander de Villa-Dei (Berl. 1893); Fierville, Une grammaire du XIII. siècle (Par. 1886). Wortschatz: (du Fresne) du Cange, Glossarium ad scriptores mediae et infimae latinitatis (Par. 1678; beste Ausgabe von Henschel, das. 1840–1850, 7 Bde.); Diefenbach, Glossarium latino-germanicum (Frankf. 1857) und Novum glossarium (das. 1867). Über Satzschluß und Reimprosa: W. Meyer in den »Göttingischen gelehrten Anzeigen«, 1893, Nr. 1, und Fragmenta Burana (Berl. 1901); Breßlau, Handbuch der Urkundenlehre, Bd. 1 (Leipz. 1889). Über reimende und rhythmische Dichtung: W. Meyer, Gesammelte Abhandlungen zur mittellateinischen Rhythmik (Berl. 1905).

Den zahlreichen lateinischen Literaturwerken des Mittelalters ist ein einheitlicher Charakter eigen, der eine zusammenfassende literarische Beurteilung rechtfertigt, insofern, als sie hauptsächlich von Geistlichen und für Geistliche geschrieben sind, durchweg getragen werden von der christlichen Weltanschauung und für Form und Technik meist in der römischen Literatur das Vorbild suchen. Doch ist bis zum 11. Jahrh. der literarische Verkehr und Austausch selbst innerhalb ein und desselben Landes gering, und die vorhandenen Unterschiede in der Nationalität der Schriftsteller treten dadurch um so deutlicher hervor. So steht der Betrachter weit eher vor der verwirrenden Mannigfaltigkeit einzelner Schulen und miteinander nicht zusammenhängender literarischer Pflegestätten als vor dem Gesamtbild einer Weltliteratur, wie man es erwarten darf und zu finden gemeint hat.

Während im 6. und 7. Jahrh. die römische Literatur in ihren letzten Ausläufern auf dem Festlande dem Ende entgegeneilt, zieht neues Leben ein mit den irischen Missionaren (s. Columbanus) und verbreitet sich aus den von ihnen gestifteten Klöstern (vornehmlich Bobio, Luxeuil, St. Gallen). In Irland selbst gedeiht die dort längst gepflegte und nicht den Stürmen des Kontinents ausgesetzte Literatur im 7. und 8. Jahrh. zu voller Blüte und wird von hier zu den Angelsachsen verpflanzt (der Dichter Aldhelm, Beda). Auswandernde Iren (Scotti) und Angelsachsen (s. Alkuin) werden die treibenden Kräfte für die nun in den karolingischen Reichen neu einsetzende literarische Bewegung. Seit dieser Zeit, die man die karolingische Renaissance genannt hat, sind die durch solche Lehrer geförderten, in ihrer Bedeutung einander ablösenden Benediktinerklöster in Frankreich (Tours, Corbie, St.-Riquier, Fleury u.a.) und Deutschland (St. Gallen, Fulda, Reichenau, Korvey u.a.), daneben die mit Dom- und Stiftskirchen verbundenen Schulen und einzelne Fürstenhöfe (ausgezeichnet ist die Hofschule der Karolinger) die Mittelpunkte der lateinischen Literatur. Wenig beteiligt sich Italien an der ziemlich gleichmäßig verlaufenden, durch politische Ereignisse und kulturfeindlichere Strömungen nur auf Zeiten gehemmten Bewegung, innerhalb derer das den grammatischen und rhetorischen Studien mehr zugewandte Frankreich dem z. B. in der Geschichtschreibung tätigern Deutschland im allgemeinen den Rang abläuft; doch wie Italien schon früher in einer vielleicht an ältere Grammatikerschulen sich anschließenden Tradition die Laienbildung gepflegt und einer mehr weltlich gesinnten Richtung Vorschub geleistet, tritt es vom 11. Jahrh. an in der Pflege des römischen Rechts und der von den Arabern vermittelten griechischen Heilkunde mit zahlreichen, diesen Wissenschaften gewidmeten lateinischen Schriften hervor. Ähnlich wächst die Bedeutung Spaniens, das, früher unfruchtbar in eignen lateinischen Hervorbringungen, seit dem 12. Jahrh. die von Arabern überlieferten Schätze griechischer Weisheit in Mathematik, Astronomie, Philosophie und Medizin und morgenländischer Fabeln dem Abendlande durch lateinische Übersetzungen erschließt. In England besteht eine bemerkenswerte lateinische Literatur erst wieder, nachdem es durch die Eroberung mit der Normandie in Beziehungen gekommen. Die überall im 12. Jahrh. erfolgte Vermehrung der sich zu Universitäten umgestaltenden Schulen mit ihren freizügigen Magistern und Scholaren, die Ausbreitung der wandernden Predigermönche, die Kreuzzüge, welche die Völker einander nähern und fabelhafte Länder in das Reich der Wirklichkeit rücken, bringen nunmehr sowohl Erleichterung des literarischen Verkehrs als auch Ansporn für neue eigenartige Produktionen in lateinischer Sprache. Doch sind die Nationalliteraturen inzwischen erstarkt und überflügeln bald die ihnen bis dahin vorbildlich gewesene lateinische Literatur.

Vgl. Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen (6. Aufl., Berl. 1893, 2 Bde.; 1. Bd. in 7. Aufl., Stuttg. 1904); über die Iren: Zimmer, Pelagius in Irland (Berl. 1901); Reeves, Life of Columba by Adamnan (Dublin 1857); Warren, Antiphonary of Bangor (1893); über die Angelsachsen: Hahn. Bonifaz und Lul (Leipz. 1883). Ferner: Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands (Leipz. 1887, 2. Aufl. 1898 ff.); Clerval, Les écoles de Chartres (Par. 1895); Specht, Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland (Stuttg. 1885); Sackur, Die Cluniacenser, Bd. 2 (Halle 1894); Salvioli, L'istruzione pubblica in Italia (Flor. 1898); Novati, L'influsso del pensiero Latino sopra la civiltà Italiana (Mail. 1899); Steinschneider, Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters (Berl. 1893, 2 Bde.) und Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen (Leipz. 1897); Mirbt, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII. (das. 1894); Comparetti, Virgilio nel medioevo (2. Aufl., Flor. 1896, 2 Bde.; deutsch, Leipz. 1875); A. Graf, Roma nella memoria e nelle immaginazioni del medioevo (Turin 1882, 2 Bde.); E. Norden, Die antike Kunstprosa (Leipz. 1898, 2 Bde.). [216] Prosa. Die religiöse Literatur nimmt nach Umfang und Gehalt die erste Stelle ein. Zunächst sind freilich exegetische wie homiletische Werke (erste Predigtsammlung des Egino, aus dem 8. Jahrh.; vgl. Rose, Meerman-Handschriften, Berl. 1892) nichts als Auszüge aus den römischen Vätern; aber im Streit um Fragen, die das Dogma (de cena domini, de praedestinatione), das Kirchenrecht und die Politik betreffen (Priesterzölibat, Simonie, Investitur), und unter dem Einfluß von Scholastik (Petrus Lombardus, Thomas von Aquino) und Mystik (Hugo von St. Vietor) entstehen in polemischen und systematischen Werken, in Predigt (Bernhard von Clairvaux), Disputation und Abhandlung selbständige und bedeutende Leistungen. Frommer Erbauung sind zu allen Zeiten zahllose hagiographische Schriften gewidmet (vitae, passiones, miracula, translationes sanctorum; erste Sammlung in Jakob von Genuas »Legenda aurea«, 2. Hälfte des 13. Jahrh.), während in Visionen (visio, revelationes), den Vorläufern von Dantes göttlicher Komödie, oft auch politische Zwecke gefördert werden. Der Kreis der profanen Unterhaltungsliteratur ist beschränkt; man begnügt sich, aus dem Altertum überlieferte Stoffe (Alexander d. Gr., Apollonius von Tyrus) in Abschriften und Ausgestaltungen zu verbreiten; erst dem 12. Jahrh. gehören die Anekdotenbücher des Walter Map und Gervasius von Tilbury an. Andre ähnliche Sammlungen des 13. Jahrh. (des Cäsarius von Heisterbach »Dialogus miraculorum«; die »Gesta Romanorum«) hängen mit der von Cisterciensern und Dominikanern gepflegten Art zusammen, die Predigt mit Beispielen und Parabeln (exempla) zu würzen; die »Disciplina clericalis« des Petrus Alphonsi (geb. 1062) wendet sich ausschließlich an den Geistlichen. Schulbücher sind die vielen Tierfabel-, Spruch- und Fragesammlungen (vgl. Voigt in den »Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungsgeschichte«, Bd. 1, 1891), die alten Stoff in immer neuen Formen variieren. Sowohl im Anschluß an die Schullektüre als an die Homiletik entwickeln sich die naturwissenschaftlichen Wunderbücher (Lapidarius, Physiologus, Bestiarius; vgl. Goldstaub im »Philologus«, 8. Suppl., 1901) mit ihren allegorischen und mystischen Ausdeutungen einzelner Eigenschaften der Tiere, Pflanzen und Steine. Die Geschichtschreibung geht von kurzen annalistischen Aufzeichnungen aus und verzeichnet im Chronikenstil die den Verfasser, sein Kloster und seine engere Heimat zunächst berührenden Ereignisse. Für mehr zusammenhängende Darstellung (Schlachtenbilder, eingelegte Reden) werden Sallust, Livius und die lateinischen Übersetzungen des Josephus ebenso Vorbilder wie später Orosius und Augustin für die vom philosophischen Standpunkt betrachtete Weltgeschichte (Otto von Freising, Frutolf von Bamberg). Selten findet die weltliche Biographie Bearbeiter, obgleich schon im 9. Jahrh. Einhard mit der an Sueton angelehnten »Vita Karoli Magni« ein von Zeitgenossen und Spätern vielbewundertes Musterbild hingestellt hatte (über Autobiographien vgl. Bezold in Steinhausens »Zeitschrift für Kulturgeschichte«, Bd. 1, 1894). Eine hervorragende Rolle hat die Briefstellerei gespielt. Die dem Mittelalter überkommenen Sammlungen weniger der Klassiker als der Kirchenväter haben nicht nur dazu geführt, zeitgenössisches Briefmaterial in ähnlichen Sammlungen aufzuheben, sondern schon bei der Abfassung von Briefen an spätere Publizität zu denken und danach den Stil zu gestalten (Briefe des Albarus von Cordoba und des Lupus von Ferrières aus dem 9., des Gerbert von Reims aus dem 10. Jahrh.). Seit dem 11. Jahrh. wird besonders in Italien die Lehre des schönen Stils (ars dictaminis) in vielen Handbüchern durch theoretische Erörterung und eingestreute Musterbeispiele vermittelt. In der wissenschaftlichen und Fachliteratur hält sich das Mittelalter ängstlich an späte und leicht zugängliche römische Werke und hat empfindliche Einbuße da erlitten, wo wichtige Stücke in der Überlieferung fehlten. Philosophie, Medizin, Mathematik und Astronomie nehmen erst einen höhern Aufschwung, als die griechischen Werke in Übersetzungen zugänglich werden (s. oben). An zusammenfassenden Darstellungen des gesamten Wissens, seien es unmittelbare Nachahmungen der »Etymologiae« des Isidor von Sevilla, seien es selbständige, wenn auch kompilatorische Werke, wie die »Specula« des Dominikaners Vinzenz von Beauvais, hat es nicht gefehlt; doch sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß, ohne Nachfolge zu finden, im 8. Jahrh. in Spanien eine Art Konversationslexikon mit alphabetischer Folge der einzelnen Artikel aus ältern Schriftstellern zusammengestellt wurde (vgl. Goetz, Der liber glossarum, Leipz. 1891).

Poesie. Im Betrieb der Dichtkunst treten die engen Beziehungen der gesamten lateinischen Literatur des Mittelalters zur Schule am deutlichsten zutage. Aus den unzähligen überlieferten Versen spricht meist entweder der anweisende Lehrer oder der sich übende Schüler. Stoff wird alles, auch das Ungeeignetste; wissenschaftliche und historische Dinge werden metrisch oder rhythmisch oft so abgehandelt, daß der zugrunde liegenden prosaischen Vorlage kein neuer Zug zugesetzt wird. Gedichtsammlungen werden vielfach nur angelegt, um brauchbare Muster für eigne Hervorbringungen zu werden. Das Eigne ist oft sehr kümmerlich; ganze Verse werden aus römischen Dichtern herübergenommen, nicht selten werden auch fast noch zeitgenössische Werke einfach durch Einsetzung andrer Namen zu neuer Bestimmung hergerichtet. Literarischer Ruhm wird in der ersten Zeit nur ausnahmsweise erstrebt; die Überlieferung bleibt häufig namenlos. Reich ist die karolingische Zeit, soweit sie unter der Anregung der Hofschule steht, an Gelegenheitspoesien von fast gesellschastsspielartigem Charakter. Die Gewöhnung, Werke der bildenden Kunst durch unter- oder übergeschriebene Verse (tituli) verständlicher und bedeutender zu machen, erhält sich bis zum 11. Jahrh. und führt zur Massenproduktion in epigrammatischen Kleinigkeiten (vgl. Steinmann, Die tituli und die kirchliche Wandmalerei, Leipz. 1892). Größere epische Versuche, abgesehen von den unter Einfluß der »Vita Martini« des Venantius Fortunatus und der »Vita Chuthberhti« des Beda versifizierten Heiligenlegenden, ahmen Vergil und Lucan nach. Hervorragende höfische Epen lieferten der sogen. Angilbert in dem unvollständig erhaltenen »Carmen de Karolo Magno«, Ermoldus Nigellus in seinem Lobgedicht auf Ludwig den Frommen, Gunther von Pairis in dem Kaiser Friedrichs I. Taten (bis zum Jahre 1160) feiernden »Ligurinus«. Unter den Heldengesängen gebührt eine vornehme Stelle dem »Waltharius« Ekkehards I. von St. Gallen (gest. 973; vgl. Strecker, Probleme in der Walthariusforschung, in Ilbergs »Neuen Jahrbüchern«, Bd. 2, 1899) und der »Alexandreïs« des Walther von Châtillon (verfaßt 1171–78); dennoch ist der »Waltharius«, wie wohl auch »Ruodlieb-, der versifizierte Ritter«[217] roman eines unbekannten Tegernseer Mönches aus der 1. Hälfte des 11. Jahrh., die Arbeit eines Schülers (dictamen metricum). Zahlreiche Werke nehmen sich die Eklogenpoesie der Römer zum Vorbild, bisweilen mehr äußerlich in der Verteilung der Verse an verschiedene Unterredner, oft als wirkliche Streitgedichte (certamen, conflictus, altercatio), die auf ähnliche Erzeugnisse der Nationalliteraturen eingewirkt haben (vgl. Selbach, Das Streitgedicht in der altprovenzalischen Lyrik, Marb. 1886). Von größern dichterischen Leistungen auf allegorischem, moralischem und satirischem Gebiete zeichnen sich aus des Milo von St. Amand (gest. 871) »Carmen de sobrietate«, des Amarcius »Sermones« (verfaßt um 1046), des Johannes v. Alta Villa »Archithrenius« (beendigt 1184); über Benutzung Juvenals im Mittelalter vgl. Hild im »Bulletin mensuel de la faculté des lettres de Poitiers« (1890 f.). In Ovidianischen Distichen von ausgewählter Eleganz sucht die Dichterschule von Orléans und Tours im 11. und 12. Jahrh. (Hauptvertreter Hildebert von Lavardin und Matthäus von Vendôme) antiken, biblischen und mehr modernen Stoffen gerecht zu werden. In dieselbe Zeit fällt die Blüte einer neuen eigenartigen, von vagierenden Klerikern und Scholaren gepflegten rhythmischen Lyrik, die, bisweilen parodierend an kirchliche Lieder und Gebräuche anknüpfend (vgl. Novati, Studi critici, Turin 1889), das Recht der Persönlichkeit, die Freude am Leben und Genuß in ursprünglicher Frische verherrlicht (Sammelhandschrift der nach dem früher Benediktbeurer Kodex genannten »Carmina Burana«; der bedeutendste Dichter der sogen. Archipoeta). Sie müssen dabei konkurrieren mit den fahrenden Vertretern der Volkspoesie (mimi, ioculatores), deren Darbietungen (burleske Pantomime, Ballade) nationale Einflüsse vermitteln und selbst in gelehrten Werken zu Worte kommen lassen (vgl. Winterfeld, Hrotsvits literarische Stellung, im »Archiv für das Studium der neuern Sprachen«, Bd. 114, 1905). Der Kirchendichtung selbst ist vielfach ein hoher lyrischer Gehalt eigen; gepflegt wird sie immer und überall, das Hymnar oder Antiphonar einer Kirche, das den überkommenen Schatz mit eignen Leistungen nicht vermehrt hätte, würde eine seltene Ausnahme bedeuten. Neben die ältern, in antiken Metren oder in gereimten Rhythmen sich bewegenden Hymnen (vgl. Chevalier, Bibliothèque liturgique, 1893 ff.; Julian, Dictionary of hymnology, Lond. 1892) treten seit dem 9. Jahrh. die, wie es scheint, von St. Gallen (Notker) ausgehenden Sequenzen, ursprünglich in Prosa, dann in Versen abgefaßte Texte, die im Kirchengesang den auf das Halleluja folgenden Koloraturen untergelegt werden (vgl. Winterfeld, Die Dichterschule St. Gallens und der Reichenau, in Ilbergs »Neuen Jahrbüchern«, Bd. 5, 1900). Bisweilen arbeiten Generationen mit, ehe ein Lied die heute bewunderte Prägnanz des Ausdrucks und der Form erhält; z. B. »0 Roma nobilis« erhält seine endgültige Fassung durch einen Veroneser im 10., »Dies irae dies illa« wohl durch den Franziskaner Thomas von Celano (s. d.), »Stabat mater dolorosa« vielleicht durch den Franziskaner Jacopone (s. d.) im 13. Jahrh., aber die Ansätze zu diesen vielleicht erhabensten Kirchenliedern gehen in viel frühere Zeiten zurück; dann wieder überrascht die Originalität einzelner Dichter, wie die des formgewandten AbälardHymnarius Paraclitensis«, hrsg. von Dreves, Par. 1891). Abgesehen von der aus der Liturgie entwickelten kirchlichen Ausführung (s. Mysterien) findet die dramatische Literatur in lateinischer Sprache keine eigentlichen Vertreter. Die Legenden der Hrotsvit sind Buchdramen, die keine Nachahmung und Verbreitung finden; die als Comoediae bezeichneten Stücke sind in Distichen geschrieben und höchstens für den Rezitator berechnet. Für die Ausführung geschrieben ist das lebensvolle politische Drama vom Antichrist, das Werk eines Tegernseer Mönches aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. (vgl. im allgemeinen Creizenach, Geschichte des neuern Dramas, Bd. 1, Halle 1893; W. Meyer, Fragmenta Burana, Berl. 1901).

Bei der Fülle der überlieferten, meist etwa gleichwertigen Schriftsteller sind in vorstehendem nur wenige Namen ausgelesen worden. Nachdem von den großen Benediktinern der Mauriner-Kongregation und ihren würdigen Nachfolgern Delisle und Hauréau in Frankreich, bei uns (besonders im Anschluß an die Arbeiten der »Monumenta Germaniae historica«) von Wattenbach, Dümmler und EbertAllgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters im Abendlande bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts«, Leipz. 1874–87, 3 Bde.; Bd. 1 in 2. Aufl. 1889) das umfangreiche Material gesichtet, bestimmt und zum Teil herausgegeben worden, hat neuerdings Grober (im »Grundriß der romanischen Philologie«, Straßb. 1893) die gesamte l. L. d. M. von der Mitte des 6. Jahrh. bis 1350 in kurzer Zusammenfassung behandelt. Bei ihm findet man die nötigen Nachweise über die ältere Literatur und die Ausgaben; daneben ist das wichtigste bibliographische Hilfsmittel Chevalier, Répertoire des sources historiques du moyenâge (Par. 1877–86; 1. Bd. in neuer Ausg. 1905); Berichte über die laufenden Neuerscheinungen bringt Vollmöllers »Kritischer Jahresbericht über die Fortschritte der romanischen Philologie«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 215-218.
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