Deutsches Volk

[748] Deutsches Volk (hierzu die Karte »Verbreitung der Deutschen in Mitteleuropa«), 1) in politischer Beziehung die Bevölkerung des Deutschen Reiches, die auch nichtdeutsche Bestandteile umfaßt (s. Deutschland, S. 768ff.); 2) in ethnographischer Hinsicht die Gesamtheit der Bewohner Europas und der andern Erdteile, deren Muttersprache die deutsche Sprache ist. Bedeutend lebhafter und inniger als noch vor ein bis zwei Jahrzehnten beschäftigt man sich heutzutage mit der gründlichen Beantwortung der wichtigen Frage, was denn eigentlich das Wesen und die Seele des deutschen Volkes in seiner Eigenart, das alltägliche Leben, das gewöhnliche Fühlen und Denken der breiten Masse, namentlich der mittlern und untern Schichten, ausmache. Abgesehen von dem Versuch, in Wiederaufnahme der Jahnschen Bestrebungen von 1810 das deutsche Volkstum eingehend zu analysieren (vgl. Hans Meyer, Das deutsche Volkstum, Leipz. 1898; 2. Aufl. 1903), mehren sich von Jahr zu Jahr die Vereine, die sich der Volkskunde (s.d.) in landschaftlich begrenzten Abschnitten widmen und die Ergebnisse ihrer Einzelforschungen durch selbständige Zeitschriften in weitere Kreise tragen. Zu nennen sind: 1) Verein für Volkskunde in Berlin (gegründet 1889; »Zeitschrift des Vereins für Volkskunde«, begründet von Weinhold); 2) Verein für niederdeutsche Volkskunde, Göttingen (1901, »Mitteilungen«); 3) Verein für sächsische Volkskunde, Dresden (1897, »Mitteilungen«); 4) Schlesische Gesellschaft für Volkskunde, Breslau (1894, »Mitteilungen«); 5) Hessische Vereinigung für Volkskunde, Gießen (1901, »Hessische Blätter für Volkskunde«); 6) Verein für bayrische Volkskunde und Mundartforschung, Würzburg (1884, »Mitteilungen und Umfragen«); 7) »Verein für Volkskunst u. Volkskunde«, München (1902, »Volkskunst und Volkskunde«); 8) Württembergische Vereinigung für Volkskunde, Tübingen (1899, Mitteilungen in den »Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde«); 9) Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, Zürich (1896, »Schweizerisches Archiv für Volkskunde«); 10) Verein für Egerländer Volkskunde, Eger (1897, »Unser Egerland«); 11) Verein für österreichische Volkskunde, Wien (1894, »Zeitschrift für österreichische Volkskunde«); 12) Kommission für deutsch-böhmische Volkskunde, Prag (1891, »Beiträge zur deutsch-böhmischen Volkskunde«). Vgl. auch Kaindl, Die Volkskunde; mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den historischen Wissenschaften (Wien 1903).

Daß die politischen und ethnographischen Grenzen sich nicht decken, erklärt sich aus der Vergangenheit des deutschen Volkes. Nordostdeutschland ist die Wiegenstätte des deutschen Volkes. Als Pytheas aus Massilia[748] um 320 v. Chr. zu allererst die Nordseeküsten des heutigen Deutschland erschloß, wohnten deutsche Völkerschaften nur im jetzigen Schleswig-Holstein bis aus Nordseegestade heran; sonst breiteten sie sich längs der Ostseeküste bis etwa ins unterste Weichselland aus und über das Binnenland des Odergebiets durch das heutige Schlesien, Sachsen, die Mark und Mecklenburg bis an die Elbe, wohl auch bereits über Thüringen. Das übrige Mitteleuropa gehörte den Kelten, nur die Tiroler und Schweizer Alpen den mit den Etruskern verwandten Rätern.

Näher als die Kelten standen den Deutschen deren Nachbarn im Osten und Norden, mit denen zusammen sie den Völkerkreis der Germanen bildeten, die Ostgermanen, hauptsächlich die Goten (damals im heute polnischen Weichselgebiet wohnhaft) und die Nordgermanen, die Stammväter der Dänen, Schweden und Norweger. Durch körperliches Aussehen, Sprache und Charakter den noch fortlebenden Nordgermanen sowie den nachmals in der Völkerwanderung oder später vernichteten, bezüglich in andern Völkern ausgegangenen Ostgermanen (z. B. auch den Vandalen, Gepiden, Burgundern) nächstverwandt, verdienen folglich die Deutschen gemäß jenen ihren ältesten Wohnsitzen den Namen der Westgermanen.

Schon in den nächsten Jahrhunderten nach Pytheas räumten die Kelten das Land zwischen Elbe und Rhein, in das nun die Deutschen einzogen. Der Rhein ward allmählich ein deutscher Strom. Die Menapier waren das letzte Keltenvolk, das (in den heutigen Niederlanden) aufs rechte Rheinufer hinüberreichte; sie räumten es kurz vor Cäsars Erscheinen in Gallien den Deutschen. Diese waren seit dem Cimbernzug stürmischer vorgedrungen, hatten den keltischen Bojern Böhmen entrissen und waren, den aus dem Maingebiet südwärts gegen die Schweiz hin verziehenden keltischen Helvetiern auf dem Fuß folgend, am süddeutschen Rhein erschienen. Sweben (Sueven) nannten sich die germanischen Heerscharen, die unter Ariovist 72 v. Chr. den Rhein sieghaft überschritten und in Gallien eindrangen. Cäsars Sieg über Ariovist lenkte die Völkergeschicke um. Ohne ihn wäre vielleicht Frankreich deutsch, Mitteleuropa slawisch geworden. Zwar blieben auch nach Ariovists Niederlage drei deutsche Volksstämme auf dem linken Ufer des süddeutschen Rheins, etwa von Straßburg ab nordwärts, in der oberrheinischen Niederung nebst dem anstoßenden Gebirge sitzen: die Triboker, Nemeten und Vangionen. Sie wurden aber Rom gleich sämtlichen Keltenstämmen Galliens untertan, und der germanischen Eroberungslust ward auf Jahrhunderte längs der Rheinlinie durch die Römer Halt geboten. Der Wallzug des Limes, der vom norddeutschen Rhein bis an die Donau oberhalb Regensburg verlief, schirmte sogar das Gelände auf der rechten Stromseite vor germanischem Ansturm, und seit unter Augustus die mitteleuropäischen Alpen samt deren nördlichem Vorland von Rom bewältigt und die Provinzen Vindelicien und Noricum organisiert waren, hielten die Römer einige Jahrhunderte auch an der Donaulinie das Übergreifen der Germanenflut zurück.

Die Völkerwanderung erst zerbrach die künstlichen Schutzgrenzen von Schanzen und Römerkastellen und machte fast ganz Mitteleuropa deutsch. Freilich entleerte sich bei diesem Jahrhunderte währenden Abströmen deutschen Volkes nach Südwesten der Osten, namentlich der Nordosten. Dafür rückten Slawenstämme westwärts ein: in Norddeutschland bis nach Ostholstein, bis an und über die Elbe und die thüringische Saale; Böhmen und Mähren ging an die Tschechen verloren, zwischen Fichtelgebirge und Böhmerwald zogen die Radanzwinden bis nach Mittelfranken hinein. Aber schon im Zeitalter Karls d. Gr. setzte die deutsche Rückflut nach diesen slawisch gewordenen Ostlanden ein: teils wurden den Slawen oder »Winden« (»Wenden«) auf kriegerischem Wege mit der deutschen Herrschaft deutsche Sprache und Gesittung sowie Aufnahme deutscher Neusiedler aufgezwungen, teils riefen slawische Fürsten freiwillig, wie in Schlesien, Böhmen und Mähren, deutsche Ansiedler in ihre Lande, um Wälder zu roden, Bergwerke zu eröffnen, Städte zu gründen. Der Deutschritter-Orden führte seit dem 13. Jahrh. Angehörige aller deutschen Stämme in das von ihm gleichzeitig dem Christentum und dem Deutschtum gewonnene Küstenland jenseit der Weichsel, wo neben polnischer litauisch-lettische Zunge erklang. Endlich verursachte die Anteilnahme Preußens an den polnischen Teilungen den letzten bedeutungsvollen Abstrom deutschen Volkes ins östlichste Oder- und ins Weichselland bis zur russischen Grenze.

Verbreitung der Deutschen

1) Verbreitung in Mitteleuropa. Die beigefügte Karte zeigt, wie noch gegenwärtig die Verbreitung des deutschen Volkes im Herzland Europas die Rückwirkungen der eben erwähnten geschichtlichen Vorgänge widerspiegelt. Man behalte bei Benutzung der Karte indessen wohl im Auge, daß die bräunlichen Flächenfarben lediglich Staatsgebiete bedeuten, die (stärkern) roten Linien dagegen die Gebiete deutscher Sprache gegen die fremder Sprache abgrenzen, während die zarten roten Linien, die Flächen von hellerem oder dunklerem Braun umziehen, nichts mit Absondern von Deutschen und Nichtdeutschen zu tun haben.

Wir bemerken zunächst in Nordschleswig das Hereinragen dänischer Sprache ins geschlossene Gebiet der Deutschen, und zwar im Binnenland bis etwas über die Flensburger Breite gegen Süden. Nicht im mindesten tritt längs der Grenze des Deutschen Reiches gegen das Königreich der Niederlande eine Sprachenscheide auf. Hüben wie drüben dieselbe Natur, derselbe Volksschlag, dieselbe Zunge! Der Kernstamm niederländischer Nation wird zu beiden Seiten des untersten Rheins von den nämlichen Niederfranken gebildet, die auch den preußischen Niederrhein bewohnen. Niedersachsen reichen unterschiedslos von Hannover in die Ostprovinzen Hollands hinüber, die holländischen Westfriesen sind die Brüder unsrer Ostfriesen. Die Flämen (Fläminger) der Nordhälfte Belgiens sind wiederum echt deutsche Niederfranken, die um Dünkirchen und Hazebrouck sogar ein wenig auf französischen Boden hinübergreifen. Hinter einer merkwürdig zäh eingehaltenen und doch durch gar keine Naturgrenze gestützten Linie, die nahe südlich von Brüssel Belgien in westöstlicher Richtung durchzieht, wohnen dagegen rein französische Wallonen. Das Großherzogtum Luxemburg teilt wieder mit dem benachbarten Mosellande der preußischen Rheinprovinz fränkische Bevölkerung, wiewohl diese in Luxemburg vielfach französisch spricht. Danach jedoch sehen wir einen breitern Streifen mit französischer Sprache nach Deutsch-Lothringen hereinreichen, schmälere nach dem Elsaß. Auch als ganz Lothringen nebst dem Elsaß staatlich zu Frankreich gehörte, hat sich die Sprachgrenze nur wenig zu ungunsten des Deutschtums verschoben; Metz z. B. war allerdings eine bis 1552 zum Deutschen Reiche gehörige Bischofstadt, indessen erst seit 1871 wurde es eine Stadt mit überwiegend deutscher Sprache.[749]

Das Schweizer Volk ist der Hauptsache nach schwäbisch, nur der Südwesten der Schweiz redet französisch, der Kanton Tessin italienisch, der Kanton Graubünden noch zum großen Teil rätoromanisch, jedoch besitzt dieser Kanton, von Norden her schon längst über Chur und Davos hinaus germanisiert, überhaupt kein einheitliches rätoromanisches Sprachgebiet mehr, letzteres wird vielmehr von Talschaften mit der mehr und mehr um sich greifenden deutschen Verkehrssprache bunter durchsetzt, als es unsre Karte darzutun vermag. Desgleichen kann sie das unbedeutende, aber geschichtlich anziehende Hinausschreiten einzelner Häuflein Deutschredender über die Schweizer Grenze nach Italien nicht zur Genüge verdeutlichen. Doch erblicken wir immerhin im äußersten Südzipfel des zusammenhängenden mitteleuropäischen Raumes deutscher Sprache die mit dem Ortsnamen Gressoney bezeichnete Gruppe von eigentlich drei Gemeinden des Lystals am Südhang des Monte Rosa; in ihnen hat sich noch heute das Deutsche als Umgangssprache erhalten, während Italienisch die Schulsprache, Französisch die Kirchensprache ist. Gleichfalls von deutschen Wallisern besiedelt ist das vom Monte Rosa nach Osten hinabziehende und zur Toce abwässernde oberste Anzascatal, wo einige Dörfer noch ihr Schweizerdeutsch, freilich z. T. in starker Verwelschung, reden, so die fünf Weiler, aus denen die Gemeinde Macugnaga sich zusammensetzt. Einer dritten Gruppe deutscher Dorfschaften Piemonts mit echten Wall isern begegnen wir im obern Tocetal; ja zwei deutsche Gebirgsdörfchen, Ager und Saley, liegen noch, versteckt im Gebirge, unfern von Domo d'Ossola.

Östlich von der Etsch hat der Bezirk der Dreizehn Gemeinden (Tredici comuni), nördlich von Verona und weiter nordöstlich der der Sieben Gemeinden (Sette comuni), beide hart an der Tiroler Grenze, den Namen von den deutschen Gemeinden, die dort im Mittelalter begründet wurden. Im erstgenannten Bezirk hat indessen nur noch eine einzige Gemeinde einen versch windenden deutschen Bruchteil, im andern zählen deren zwei einen Rest deutsch redender Bewohner (Näheres s. im Artikel »Comuni«). Besser hat sich das Deutsch unsrer drei Friauler Sprachinseln, von denen unsre Karte die von Bladen angibt, an und vor dem Fuß der Karnischen Alpen in abgeschiedener Verkehrslage erhalten. Sie gehören dem in Österreich heimisch gewordenen Teil des bayrischen Stammes an, der von dem (noch schwäbischen) Vorarlberg ab ostwärts die Alpenländer bewohnt. Durch das von Süden herausführende große Quertal der Etsch hat sich allerdings die italienische Sprache bis gegen Bozen hin ausgedehnt, und auch beiderseits des Etschtals ist Südtirol bis ungefähr in diese Breite welsch. Ferner zogen im frühen Mittelalter durch die ostwärts sich öffnenden Täler der Save, Drau und Donau südslawische Slowenen ein; deren Nachkommen bevölkern noch heute Krain, Untersteiermark, das östliche Kärnten, im übrigen jedoch sind die Slowenen von den Alpenbayern aufgesogen worden, mit denen sie einst im Pustertal um das Land kämpften. Das längste aller ostalpinen Längstäler, das der Drau, hatte die Slowenen naturgemäß am weitesten in den Westen geführt; noch in Osttirol weisen Ortsnamen, wie Windisch-Matrei, südwestlich vom Großglockner alte Slowenensiedelungen auf.

An der untern Mur erreicht das zusammenschließende deutsche Sprachgebiet seinen äußersten Südostpunkt. Fortan zieht die Grenze unsrer Zunge im allgemeinen nordwärts bis zur Thayamündung in die March, bis an die Preßburger Donau schließt sie auch noch einen ungarischen Grenzstreifen mit ein. Dann aber beobachten wir ihr tiefstes Zurückweichen nach Westen, bewirkt durch den weitesten Westvorsprung des Slawentums im gegenwärtigen Europa, den tschechischen in Mähren und Böhmen. Bis auf vereinzelte Sprachinseln, deren größte die von Iglau und Zwittau-Trübau, nimmt das Deutschtum nur die Radflächen Böhmen-Mährens ein, gleichsam die Gestade des slawischen Westgolfes, der längs des Karpathenkammes gegen Ungarn mit dem offenen Slawenmeer zusammenhängt; denn dort drüben hausen keine Deutschen mehr, sondern in die tschechische Verwandtschaftsgruppe gehörige Slowaken.

In Norddeutschland gestaltet sich die Abgrenzung gegen das Slawentum viel verwickelter. Hier gewahren wir nicht allein den inselähnlich zusammengeschwundenen Rest der mit den Tschechen weitläufig verwandten Lausitzer Wenden an der Spree von der Bautzener bis in die Kottbuser Gegend, sondern vor allem in wirrem Zackenverlauf die ziemlich moderne Abgrenzung des Deutschtums gegen das Polentum in Oberschlesien, Posen und Westpreußen, ebenso die ältere, schon aus der Deutschritterzeit überkommene im südöstlichen Ostpreußen, wo die zum Protestantismus übergetretenen Masuren wohnen. Von der den Slawen zur Seite stehenden lettisch-litauischen Völkergruppe ist das ehemalige Hauptvolk Ostpreußens, die alten Preußen, seit der Zeit um 1700 sprachlich völlig umgedeutscht; die Litauer reichen dagegen über die russische Grenze auf ostpreußischen Boden herüber bis an die Memel und bis ins Memeldelta. Auch die Letten (früher Kuren genannt) haben auf der Kurischen Nehrung nebst dem nordwärts von Memel folget man, ebenso schmalen Küstenstreifen bis über die deutsch-russische Grenze bei Nimmersatt hinaus ihre lettische Sprache noch nicht ganz verloren.

Die beigefügte Karte veranschaulicht nun auch in einer rot gestrichelten Linie den Gürtel zwischen dem lettischen Sprachgebiet und der Meeresküste, innerhalb dessen noch das altertümlichere Nieder- oder Plattdeutsch gesprochen wird, ferner durch eine rot punktierte Linie den mittlern Gürtel der mittel deutschen sowie den südlichen der oberdeutschen Mund arten. Dem Niederdeutschen qehört also an: Niederfränkisch (mithin auch Flämisch und Holländisch) und auf dem rechten Rheinufer bis zur Elbe und nach Schleswig-Holstein Niedersächsisch, das durch die vorwiegend von Niedersachsen bewirkte Regermanisierung der ostelbischen Slawenlande auch in diesen geredet wird. Mitteldeutsche Mundarten herrschen im norddeutschen mittelgebirgigen Rheingebiet, in der Pfalz, am Main, in Hessen, Thüringen sowie den hauptsächlich von Thüringen her nach der Slawenzeit kolonisierten östlichern Landen Sachsen und Schlesien; oberdeutsch reden die Schwaben sowie (östlich vom Lech) die Bayern.

Unsre Karte erinnert uns endlich noch durch Unterscheidung der Wohnräume Dunkelhaariger (und Dunkeläugiger) von solchen Hellhaariger (und Helläugiger) an unverwischte Spuren recht verschiedenartiger Abkunft des deutschen Volkes. Wir erkennen sofort, daß ganz besonders bom Niederrhein bis nach Schleswig-Holstein die Blonden wohnen, die dem von Tacitus geschilderten Germanentypus von allen Deutschen am meisten entsprechen; sie ähneln auch auffällig den sicherlich recht reinblütig verbliebenen Nordgermanen. Vorwiegend blond erscheinen außer den Niedersachsen auch ein Teil der Mittelfranken, die Hessen, die nordöstlichen Thüringer. Je mehr wir uns aber dem Rhein[750] wie dem römischen Grenzwall nähern, desto brünetter wird das Volk, vollends jenseit dieser Scheide im Südwesten. Man neigt dazu, das auf Blutmischung mit Kelten, und zwar zumeist mit romanisierten Kelten, kleinernteils auch mit Römern selbst zurückzuführen, indessen könnten auch vorkeltische Bewohner mit in diese deutsche Blutmischung eingetreten sein, von deren ethnischer Zubehör wir nichts wissen. Besonders die Niedersachsen haben ersichtlich ihre Germanenblondheit als Neusiedler auch auf die baltischen Küstenländer und nach der Mark übertragen; indessen die schwarze Schraffierung, die sich auf unsrer Karte über den ganzen Nordosten lagert, deutet slawische Beimischung an. Gewiß traten die Westdeutschen, als sie während der zweiten Hälfte des Mittelalters kolonisatorisch die Elbe und Saale ostwärts überschritten, mit den dort vorgefundenen Slawen allmählich in Ehebündnis; das ergab deutsch-slawische Blendlinge. Aber überall braucht dieser Vorgang nicht angenommen zu werden. Es konnte manchen Orts das ostdeutsche Slawentum auch rein kulturell umgedeutscht werden. Gar viele reinstes Deutsch redende Bewohner unsers Ostens können mithin noch heute reinblütige Slawen darstellen, worauf mitunter vielleicht die z. B. an Tschechentypus erinnernden Breitschädel im alten thüringisch-sächsischen Sorbenland hinweisen.

2) Verbreitung in den übrigen Ländern Europas. Allein in Osteuropa finden wir das Deutschtum zahlreicher verbreitet in selbständigen Siedelungen ältern wie neuern Ursprungs und z. T. in rüstigem Weitergedeihen. Letzteres dürfen wir vor allem rühmen von unsern bis in 12. Jahrh. zurückreichenden Kolonien in Siebenbürgen, die uns zugleich von allen am treuesten geblieben sind trotz aller Schicksalswendungen. Leider hat die von Haus aus sporadische Ansiedelung der Siebenbürger Deutschen, die »Sachsen« heißen, obwohl sie aus dem mittelfränkischen Rheingebiet stammen, in ihrer zumeist von Walachen, also Rumänen, bevölkerten neuen Heimat nie zu räumlichem Zusammenschluß geführt. Die 233,000 Deutschen in Siebenbürgen sind hauptsächlich auf vier Flächen verteil t. im Süden auf das Burzenland mit Kronstadt, den Königsboden mit Hermannstadt, Mediasch und Schäßburg, den Unterwald mit Mühlbach, im Norden auf das Rösnerland mit Bistritz. Wenn man aber mehr denn 2 Mill. Deutsche im gesamten Königreich Ungarn zählt, so wird ersichtlich, daß an Zahl der Deutschen Siebenbürgen über die andern Länder der Stephanskrone keineswegs hervorragt. Die meisten Deutschen wohnen vielmehr im eigentlichen Ungarn, am zahlreichsten im oben erwähnten Grenzstreifen östlich von Steiermark und Niederösterreich bis Preßburg. Zerstreut liegen ferner größere Einzelflächen mit überwiegend deutscher Bewohnerschaft im Banat zwischen Maros und Temes (mit Temesvar), am linken Donauufer abwärts der Draumündung, im Nordosten von Fünfkirchen, im Nordwesten von Budapest bis Waitzen, kleinere im nordungarischen Erzgebirqe, so an der Hohen Tatra um Kesmark und bei Kremnitz, wo sich deutsche Bergleute im Mittelalter um den Erschluß reicher Erzgruben verdient machten. Weit verzettelt liegen auch in den angrenzenden österreichischen Karpathenländern, Österreichisch-Schlesien, Galizien und der Bukowina, über 200 deutsche Ansiedelungen, meist gegründet von Kaiser Joseph II. In Rußland sind die ältesten deutschen Niederlassungen die vom Schwert- und Deutschritterorden in Kurland, Livland und Estland in Gemeinschaft mit der Hansa errichteten zwischen let (ischen und estnischen Bauern; hier leben noch gegenwärtig 200,000 Deutsche. Die übrigen deutschen Niederlassungen wurden erst nach Peter d. Gr. gegründet. Die nördlichste ist Cholm an der Lowat; unter den vielen Sprachinseln im ehemaligen Königreich Polen ist die von Lodz die bedeutendste. Im Gebiete des Schwarzen Meeres liegen vier Kolonien westlich von Kiew im S. der Rokitnosümpfe und Urwälder Wolhyniens bei Wladin, Schitomir und Luzk. In Bessarabien finden wir außer um Odessa auch Deutsche zu Neu-Teplitz, Neu-Leipzig, Neu-Worms und Neu-Landau unweit der Bugmündung. Am Dnjepr sind Jekaterinoslaw und Neuenburg deutsche Orte und jenseit dieses Flusses, nicht weit vom Asowschen Meer, Marienfeld, Halbstadt und Neu-Darmstadt. Wir finden hier meist Bauern aus Schwaben, die sehr wohlhabend geworden sind und jetzt über 50,000 Köpfe zählen. Schon vor ihnen hatten sich 1804 und 1805 Württemberger, Elsässer und Schweizer auf der Krim angesiedelt und dort 16 Ortschaften mit deutschen Namen gegründet, darunter Zürichthal, Neu-Heilbronn, München, Stuttgart. Weit umfangreicher aber sind die deutschen Kolonien, die an der mittlern Wolga von Sarepta stromaufwärts über Saratow hinaus einen Flächenraum beanspruchen, der größer ist als das Königreich Sachsen. Sie wurden 1763 bis 1770 von Württembergern, Hessen und Sachsen anfänglich an 104 Plätzen angelegt und zeichnen sich durch ihre massenhafte Getreideproduktion aus. Von Bessarabien ziehen sich noch einige kleine dörfliche Siedelungen deutscher Bauern nach der Dobrudscha. Hiermit jedoch schließen die Länderflächen Osteuropas, in denen der deutsche Anteil an der Bevölkerung wenigstens 1–5 Proz. beträgt. Dieses Verhältnis kehrt auch in ganz Süd-, West- und Nordeuropa nirgends wieder, mit einziger Ausnahme des nordöstlichen Frankreich. Hier dehnt sich eine Fläche mehrprozentiger deutscher Beimischung von der deutschen und luxemburgischen Grenze bis über die mittlere Seine um Paris aus, das ja selbst eine ansehnliche deutsche Bewohnerzahl aufzuweisen hat. Nirgends indessen gewahren wir auch nur die kleinste deutsche Ortschaft daselbst, wie sie sich so massenhaft jenseit der Ostgrenze unsers Sprachgebiets vorfinden. Die Deutschen beteiligen sich eben nur gleich allen andern Nachbarvölkern Frankreichs an dem tropfenweisen Einsickern in diesen mäßig dicht bevölkerten Staatsraum.

Zwar könnte man noch von manchen eingegangenen deutschen Kolonien in andern als den genannten Län dern Europas reden, so von den Pfälzerkolonien auf der Ahlheide Jütlands und bei Limerick in Irland, den Schwabendörfchen auf der spanischen Sierra Morena, der bayrischen Gründung Heraklions bei Athen aus der Zeit König Ottos von Griechenland; indessen sind das bloße geschichtliche Raritäten. ‚

3) Verbreitung außerhalb Europas. Über See hatten sich die Deutschen gleich mit Beginn der bahnbrechenden Unternehmungen der Portugiesen und Spanier im 15. Jahrh. nach fremden Erdteilen auszubreiten begonnen. Zu Massenansiedelungen haben sie es aber fast ausschließlich in den gemäßigten Zonen beider Erdhalbkugeln gebracht, hauptsächlich in Amerika.

Asien birgt weniger Deutsche als jeder andre Erdteil, wohl kaum 50,000. Rund zwei Drittel dauon, etwa 35,000, entfallen auf Kaukasien und zwar besonders auf die Gegend von Tiflis. Württemberger Schwaben, die aus religiösem Separatismus ihre Heimat 1817 verlassen hatten, gründeten die älteste der transkaukasischen Bauernkolonien deutscher Art, Marienfeld,[751] östlich von Tiflis. Seitdem sich die Kolonisten dem kaukasischen Klima angepaßt haben, gedeihen sie sehr wohl. Allmählich haben sich die kaukasischen Schwabendörfer bis auf elf vermehrt; das jüngste, Paulinenhof (Petrowka), wurde 1892 bei Kars gegründet. An den mit deutschem Kapital gebauten kleinasiatischen Eisenbahnlinien sind noch keine deutschen Siedelungen entstanden, jedoch bilden deutsche Bahnbeamte in nicht unbeträchtlicher Zahl kleine Kolonien in Haidar Pascha, auch in Eskischehr und Kaisarie. Die schwäbischen Templer Palästinas machen sich neuerdings in Jafa, Sarona, Haïfa und der Umgebung Jerusalems um den Wein- und Apfelsinenbau des Landes verdient, zählen aber nur 1400 Köpfe. Durch das übrige Asien gibt es, abgesehen von der jüngst entstandenen deutsch-chinesischen Hafenstadt Tsingtau, keine einzige deutsche Ansiedelung. Und so belangreich Deutschlands Anteil am Handel sowie an der Reederei der indischen und chinesisch-japanischen Welt ist, belaufen sich doch die Zahlen deutscher Geschäftsleute und Beamten selbst in so hervorragenden Plätzen wie Bombay, Kalkutta, Bangkok, Hongkong, Jokohama immer nur auf wenige Hunderte.

Ähnlich liegen die Dinge in Afrika. Sogar in dessen subtropischem Norden ist das deutsche Volk, von ein paar Dörfchen in Algerien abgesehen, trotz des gesunden Klimas nur ganz vereinzelt, aber gleichwie in seinem Tropengürtel nicht durch wirkliche deutsche Siedelungen vertreten. So leben z. B. in ganz Marokko zurzeit nicht mehr als 190 Deutsche, von denen 47 keine Reichsdeutschen sind. Anders aber ist es unter dem Subtropenhimmel Südafrikas. Hier hat sich unser holländischer Bruderstamm am Kap seit 1652 wohnlich eingerichtet inmitten von Kaffern und Hottentotten und in den Buren eine eigenartige Variation des Holländertums geschaffen. Reichsdeutsche sind jedoch in dem nun britischen Südafrika bloß vereinzelt wohnhaft, meistens in den Handelsplätzen der Küste. Echt deutsche Siedelungen hingegen legen wir jetzt in unserm Schutzgebiete Deutsch-Südwestafrika an, wo bei gesundem Klima die Zahl der Deutschen bereits sich auf mehr als 4000 erhoben hat.

Australien und Neuseeland, besonders das erstere, sind im 19. Jahrh. nächst Amerika Hauptziele deutscher Auswanderung gewesen. Einige Bergleute, Winzer und Bauern eröffneten 1836 und 1837 den Hinzug der Deutschen nach dem fernen Weltteil. Von den des Weinbaues völlig unkundigen englischen Ansiedlern gerufen, haben Winzer aus Hattenheim im Rheingau die ersten Reben in Neusüdwales gepflanzt; von hier aus gelangte der Weinbau erst in die übrigen Teilstaaten Australiens, wo er sich besonders in Südaustralien reich gelohnt hat. Nach Südaustralien lenkte sich auch 1838 die erste Massenauswanderung brandenburgischer Bauern, die, als Altlutheraner um einen Agendenstreit mit ihrem König zerfallen, in Australien landeten und unter Führung ihres greifen Seelsorgers nahe nördlich von Adelaide ihr verlassenes Heimatsdorf Klemzig neu erstehen ließen. Nachmals brachte der Mißerfolg der Revolution von 1848 gleichfalls hierher wie nach Nordamerika Unzufriedene auch aus höhern Ständen; aus allen Berufskreisen sammelten sich so mit der Zeit deutsche Ansiedler in Südaustralien, nach dem Aufschluß reicher Gold- und Kupfergruben namentlich auch Berg- und Hüttenleute aus dem Harz. Jetzt drängen sich in dem Bezirk nördlich von Adelaide um das ganz deutsche Städtchen Tanunda am Fuß des schönen Kaiserstuhls die Dörfer der Deutschen mit deutschen oder biblischen Namen wie zu einem frischen Blütenkranz zusammen. Die Deutschen machen k-reits 8 Proz. der Gesamtbevölkerung dieses Kolonialstaates aus. Ähnlich stark (zu 7 Proz.) sind sie nur noch an der Bevölkerung von Queensland beteiligt. Man erkannte hier die Kolonistentüchtigkeit der Deutschen praktisch dadurch an, daß man ihnen jahrelang freie Überfahrt aus Deutschland und unentgeltliche Landüberweisung zubilligte. Im ganzen sind rund 63,000 Deutsche nach Australien nebst Neuseeland ausgewandert; 1883 erzielte diese Bewegung den Höchststand mit 2104 Köpfen, flaute darauf jedoch stark ab und ging jüngst bis auf 150 zurück.

Schwer fällt es, die Zahl der Deutschen in diesen Koloniallanden genauer festzustellen, weil sie gerade in Australien ebenso rasch in der englischen Bevölkerung ausgehen wie in den Vereinigten Staaten Amerikas. Heiratet der deutsche Ansiedler eine Engländerin oder eine Schottin, so reden die Kinder regelmäßig die Sprache ihrer Mutter; und auch andernfalls ist schon das Deutsche in der zweiten Generation recht fragwürdiger Natur, in den fernern schwindet es ganz (außer in den wenigen Ortschaften ausschließlich deutscher Bewohnung), und es mangelt dann die üblichste Handhabe für die Nationalitätenstatistik zur Ermittelung der Kopfzahl der Deutschen. Nach Emil Jung darf man gegenwärtig annehmen als

Tabelle

Auf den Australinseln von Neuguinea bis Neukaledonien, die alle erst neuerdings von europäischen Nationen zum Ziel ihrer Kolonialpolitik gemacht wurden, und auf den Inseln der Südsee hausen (von einigen Handels- und Missionsstationen abgesehen) ausschließlich Eingeborne. Doch sammeln sich schon Deutsche verschiedenster Berufsarten in Apia, der aufblühenden Hauptstadt Deutsch-Samoas. An dem bunt aus allen Erdteilen zusammengewürfelten Volt der Hawaïgruppe hat das deutsche gleichfalls einen mäßigen Anteil; gelegentlich haben Hunderte deutscher Arbeiter auf den dortigen Zuckerrohrfeldern bewiesen, daß der Deutsche selbst bei härterer Körperanstrengung im Freien dem Tropenklima keineswegs erliegt; in Honolulu treffen wir Deutsche im Groß- und Kleinhandel wie als Gewerbtreibende.

Weitaus die meisten unsrer Auswanderer über See hat Amerika empfangen, Nordamerika dabei viel mehr als Südamerika, schon darum, weil es uns näher liegt und in ganzer Breite den gemäßigten Erdgürtel durchmißt. In den amerikanischen Tropen gibt es geschlossene deutsche Kolonistendörfer nur ganz ausnahmsweise, so das 1857 mitten in Peru etwas planlos gegründete Dorf Pozuzo, wo in einem malerischen Hochgebirgstal, jedoch leider abgeschieden von allem Verkehr, 600 Katholiken wohnen, die aus Rheinpreußen, Bayern und Deutsch-Tirol herstammen. Deutsche Ackerbaukolonien von Bedeutung hat erst das außertropische Südamerika aufzuweisen, vor allem die drei Südstaaten Brasiliens. Hier schätzt man die Zahl deutscher Ansiedler (Stadt- und Landbewohner zusammen gefaßt) in Parana auf 50,000,[752] in Santa Catharina auf 100,000, in Rio Grande do Sul wenigstens auf 150,000. Da diese südbrasilischen Kolonien in ihren Anfängen bis ins Jahr 1824 zurückgehen, sind sie insofern hochbedeutsam, als sie noch heute in Sprache und Wesen deutsch geblieben sind. Diese Auswanderer nach Südbrasilien (großenteils blutarme Bauern oder Tagelöhner aus Pommern und dem Hunsrück) sind nicht bloß zu erfreulichstem Wohlstand in den Urwäldern jenes Südens gelangt, sondern auch der Handel Südbrasiliens ist in einem Maße wie sonst nirgends in Südamerika in deutscher Hand. Nur noch in Chile ist Ähnliches geschehen. Seit 1850 siedelten sich daselbst Deutsche an, teils in der noch spärlich bewohnten Gegend von Valdivia und dem Landstrich bis Osorno, teils um den Llanquihuesee am Fuß der schneebedeckten Vulkane Osorno und Calbuco, wo Nord- und Süddeutsche bunt durcheinander die Wildnis in Kulturland umwandelten. Nur in den Provinzen Valdivia, Llanquihue und Valparaiso zählt man je 3000 Deutsche, etwa 4 Proz. der Gesamtbevölkerung. Überall sonst sind die Deutschen in Chile weit undichter noch gesät, selbst im Bezirk der Landeshauptstadt Santiago, so ansehnlich auch in dieser selbst das deutsche Element in den Kreisen der Wissenschaft, des Heerwesens, Großhandels sich geltend macht. Karl Martin berechnet die Summe der Deutschen Chiles auf rund 20,000. In Argentinien haben sich die deutschen Auswanderer zumeist mit andern Nationalitäten vermischt.

Bei weitem die meisten über See gegangenen Deutschen hat Nordamerika aufgenommen. Sie wandten sich auch den so gesunden wie fruchtbaren Gegenden des südöstlichen britischen Nordamerika zu, wo sie schon die Anzahl von 310,000 erreicht haben und in den Provinzen an den kanadischen Seen wie in Manitoba mehr als 5 Proz. der Bewohnerschaft ausmachen. Der Löwenanteil jedoch entfällt auf die Vereinigten Staaten. Im 17. Jahrh. langsam beginnend, ward die deutsche Auswanderung dorthin bereits 1709 durch den Abstrom aus der Pfalz zur Massenauswanderung, erklomm nach den trüben Jahren der Hungersnot und der Revolution ihren Höhepunkt von 252,000 Auswanderern 1854, um erst in der jüngsten Vergangenheit in mäßige Grenzen zurückzugehen. Allein seit 1821 zogen über 5 Millionen Deutsche in dies Gelobte Land, das ja in der Tat bei seiner im Verhältnis zur Raumfülle noch so geringfügigen Bevölkerung und der vollsten Freigabe des wirtschaftlichen Wettbewerbes, teilweise hoher Fruchtbarkeit und erstaunlichem Reichtum an Fossilschätzen den arbeitslustigen Europäer besonders anlocken mußte. Gegenwärtig allerdings wird die deutsche Zuwanderung in die Vereinigten Staaten stark überboten durch die italienische und slawische; stellte sie sich doch im Zensusjahr 1901/1902 nur auf 28,304, dagegen die aus Italien auf 178,375, die aus Österreich-Ungarn auf 171,989, die aus Rußland auf 107,347. Trotzdem fließt im Blute der seit 1776 entfalteten größten Nation der Neuen Welt nächst dem britischen am meisten deutsches Blut. Hauptsächlich verbreitet finden wir die Deutschen in den Nordoststaaten New York, New Jersey und Pennsylvanien sowie in den westlich folgenden Nordstaaten der Mitte, südwärts von den großen Seen bis Missouri, in denen durchweg über 100,000 in Deutschand Geborne gezählt werden, im erstgenannten Staat sogar beinahe 1/2 Mill. Der relativ deutscheste Teilstaat der Union ist Wisconsin am Westufer des Michigansees mit 11,7 Proz. in Deutschland geborner Bewohner. Wenn unsre Auswanderer auch schon in den ersten Generationen, wie in Australien, so auch hier ihr Deutschtum einbüßen, wo sie nicht ganz ausnahmsweise in rein deutscher Gemeinschaft fast außer Verkehr mit Englischredenden ein entlegenes Örtchen bewohnen, so dürfen wir doch zum mindesten diejenigen noch als Deutsche bezeichnen, die, wenn auch nicht selbst in Deutschland geboren (deren Zahl beträgt 2,666,990), doch von dort gebornen Eltern, bezüglich einem in Deutschland gebornen Vater oder einer in Deutschland gebornen Mutter stammen. Bei solcher Erweiterung des Begriffes »Deutsche« gibt es deren in den Vereinigten Staaten nach einer von E. Hasse ausgeführten Berechnung 7,825,497. Dann steigt z. B. die Anzahl der Deutschen im Staat New York auf 1,2 Mill., d. h. 16,75 Proz., im Staat Wisconsin auf mehr als 700,000, d. h. 34,3 Proz. Zählt man mit Hasse auch noch diejenigen Bewohner als Deutsche, die als Deutschredende zwar nicht aus Deutschland, aber aus angrenzenden Ländern, wie Österreich, der Schweiz und Rußland, eingewandert sind, so erhält man die obige Ziffer der 2,7 auf etwa 3,1 Mill. aus deutschem Sprachgebiet Stammender erhöht. Demnach dürfen wir sicherlich wenigstens 10 Mill. deutscher Abkunft unter den 76 Mill. vermuten, die 1900 in den Vereinigten Staaten gezählt wurden. Selbst aber bei jener engsten Begriffsbestimmung, nach der Deutsche bloß »Deutschländer« bedeuten, wohnen z. B. in Milwaukee, der großen halbdeutschen Kapitale Wisconsins, mehr Deutsche als in Halle und in New York mehr als in Frankfurt a. M.

Über die Gesamtzahl der auf der ganzen Erde lebenden Deutschen machte Paul Langhans 1902 folgende Ausstellung:

Tabelle

Hierbei sind jedoch die Niederländer mit eingerechnet (daher die hohe Zahl für Afrika sowie für Asien, die unsre oben [S. 751] für Asien angegebene beträchtlich überbietet). Schließt man aber die politisch und sprachlich von den Deutschen getrennten Niederländer aus, so erreicht die Gesamtzahl der Deutschen nicht ganz 80 Mill. Selbst in diesem eingeschränktern Sinn übertrifft demnach das Volk der Deutschen das der Engländer an Zahl, steht nahezu dem russischen hierin gleich und wird auf Erden an Massenhaftigkeit weit überholt allein von den beiden Riesenvölkern Asiens, den Indern und den Chinesen.

Vgl. R. Böckh, Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet (Leipz. 1870); Langhans: Deutsche Erde, Beiträge zur Kenntnis deutschen Volkstums allerorten und allerzeiten (Gotha, Zeitschrift seit 1902), Deutscher Kolonial-Atlas (das. 1897) und Altdeutscher Atlas (das. 1902); Nabert, Karte der Verbreitung der Deutschen in Europa (Glogau 1891); Derselbe, Das deutsche Sprachgebiet in Europa (Stuttg. 1893); Bremer, Ethnographie der germanischen Stämme (Straßb. 1899); Meitzen, Die Ausbreitung der Deutschen in Deutschland und ihre Besiedelung der Slawengebiete (Jena 1879); Derselbe, Wanderungen, Anbau und Agrarrecht der Völker Europas nördlich der Alpen (Berl. 1895, 3 Bde.); Kaemmel, Die Anfänge deutschen Lebens in Österreich bis zum Ausgang der Karolingerzeit (Leipz. 1879); Krones, Die deutsche Besiedelung der östlichen[753] Alpenländer (Stuttg. 1889); Beheim-Schwarzbach, Die Besiedelung von Ostdeutschland durch die zweite germanische Völkerwanderung (Berl. 1882); Wendt, Die Germanisierung der Länder östlich der Elbe (Liegn. 1884–89, 2 Tle.); Ed. O. Schulze, Die Kolonisierung und Germanisierung der Gebiete zwischen Saale und Elbe (Leipz. 1896, preisgekrönt); Tetzner, Die Slawen in Deutschland (Braunschw. 1902); von der Ropp, Deutsche Kolonien im 12. und 13. Jahrhundert (Gießen 1886); Boll, Mecklenburgs deutsche Kolonisation im 12. und 13. Jahrhundert (im »Jahrbuch des Vereins für mecklenburgische Geschichtskunde«, 13. Jahrg.); Riedel, Die Mark Brandenburg im J. 1250 (Berl. 1831, 2 Bde.); Weinhold, Die Verbreitung und die Herkunft der Deutschen in Schlesien (Stuttg. 1887); Loewe, Die Reste der Germanen am Schwarzen Meer (Halle 1896); v. Wersebe, Über die niederländischen Kolonien, welche im nördlichen Deutschland im 12. Jahrhundert gestiftet worden (Hannov. 1815–16, 2 Bde.); de Borchgrave, Histoire des colonies belges qui s'établirenten Allemagne pendant le XII. et le XIII. siècle (Brüss. 1865); R. Schröder, Die niederländischen Kolonien in Norddeutschland zur Zeit des Mittelalters (Berl. 1880); Rudolph, Die niederländischen Kolonien der Altmark im 12. Jahrhundert (das. 1889); Wachsmuth, Geschichte deutscher Nationalität (Braunschw. 1860, 2 Bde.); Tietz, Die geschichtliche Entwickelung des deutschen Nationalbewußtseins (Hannov. 1880); Schultheiß, Geschichte des deutschen Nationalgefühls (Münch. 1893ff.); Brämer, Nationalität und Sprache im Königreich Belgien (Stuttg. 1887); Sartorius v. Waltershausen, Die Germanisierung der Rätoromanen in der Schweiz (das. 1900); »Der Kampf um das Deutschtum« (Sammelwerk mit monographischen Beiträgen über die Verbreitung der Deutschen inner- und außerhalb Europas, Münch. 1897ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 748-754.
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